Freitag, 5. August 2011

Nachtgedanken eines verkommenen Antiquars






1.
Ich wünsche mir  e i n m a l  eine so freundliche, sachkundige, lebendige Diskussion, wie sie gestern bei den Sortimentern stattfand, bei uns Antiquaren. Sind war dazu wirklich zu dumm, zu unbeweglich, zu gehässig, zu verbohrt? Ich habe den zugrundeliegenden Artikel und die lange Spalte der Kommentare erst heute Abend entdeckt, als ich durch den Buchhandelsteil des Börsenblatt-Netzdienstes spaziert bin, ein eher seltenes Erlebnis, weil mich die Neubuchhandelsfragen nicht allzusehr interessieren.

Ach, hätte ich mir den Ausflug nicht angetan! Denn nun nagt der Neid in mir, eine Sehnsucht und die Frage:  W e s h a l b  ist sowas, in dieser offenen, regen Form, unter uns Antiquaren ein Ding der Unmöglichkeit? Was müßte getan werden, um auch bei uns diese schöne, fröhliche und äußerst lehrreiche Diskussionskultur einzuführen?

2.
Bin ich der einzige lebende Kommunist unter den Buchantiquaren?

Es nervt mich ungeheuer und macht mich betroffen, wenn ich sehe, wie - gerade auf Dr. Biesters verflixten Messen - ein  Hofieren des Besitzbürgertums stattfindet, das mir die Schamröte ins Gesicht treibt. Unter unseren teuersten Artikeln sind noch heute oft genug jene wunderschönen Werke, die  n u r  für die Sozialschmarotzer vergangener Jahrhunderte hergestellt worden sind, die nur sie und ihre Agenten (Pfarrer. Juristen, Verwaltungsbeamte, Militärs) kaufen konnten.

So traumhaft schön die großen Kupferwerke, die Luxus- und Pressendrucke auch sein mögen - muß uns die Hand nicht zittern beim Anfassen dieser Bücher, die nur mit Blut und Tränen, mit Ausbeutung, Belügung und Terrorisierung, mit Dummhaltung und Einkerkerung unserer Vorfahren hergestellt und gekauft werden konnten?

Welcher Antiquar, welcher Kunde  s c h ä m t  sich für diese Seite der Vergangenheit vieler Spitzenstücke unseres Gewerbes? Sind wir besser als die Diamantenhändler, die sich aus dem Schmuck der Romanows oder der Judentransporte bedienen?

Und nun kommen wieder Sammler und Investoren zu uns an den Stand, in die Versteigerung, die ihr Geld automatisch vermehrt sehen, sie wissen nicht wie, während drei Viertel ihrer Brüder ebenso automatisch verarmen. E k e l t  uns diese Kundschaft nicht an?

Wie oft geht Ware durch unsere Hände, auf denen der  F l u c h  der Ausbeutung lastet wie ein dunkler Schatten - und wie oft setzen wir selber diese unheilvolle Kette fort durch den katzbuckelnden Verkauf an die Crème unserer Gesellschaft?

Düstere Gedanken, die man zur Nacht nicht anstellen soll. Schnell weg!

3.
Gibt es noch ein sozialistisches Antiquariat?

Ich meine damit nicht ein solches, das Fachliteratur aus und über sozialistische(n) Bewegungen sammelt. Das reicht nicht - ich meine solche Kollegen, die ein linkssozialistisches Antiquariat  l e b e n.

Ich habe da praktischen Unterricht erhalten einmal in den Antiquariaten der Provinz-DDR, die ich als politischer Anhänger der untergegangenen DDR mitunter besuchen durfte. Ich kam mir vor wie Udo Lindenberg - alles am DDR-Antiquariat fand ich eigentlich grauenvoll, getraute mir aber nicht, davon zu sagen und zu singen. Die Antiquariatskultur der DDR war sicher kein Ruhmesblatt für jene mir sonst so sympathische neue Lebensform im Osten. Ich bekam akute Ekelgefühle; Brechreiz von der Sorte, wie sie mich bei meinen Besuchen in der Staatsbibliothek Ost mit ihren Gängelungs- und Kontrollsystemen zu überfallen pflegte. G e i s t e s f r e i h e i t - in den Antiquariaten und Bibliotheken der DDR spürte ich davon nichts. Marx und Engels hätten sich geschämt, dort Kunden zu sein.

Anders in Zürich beim tiefroten Genossenschaftsantiquariat Pinkus, das man beileibe nicht verwechseln durfte mit dem ABC-Pinkus ein paar Querstraßen weiter. Dort störte mich etwas ganz anderes - eine seltsam angespannte, genervte, untolerante und irgendwie dogmatische Atmosphäre, das Gegenteil einer lockeren linken WG, wie ich sie in Freiburg kannte. Ich setzte große Hoffnungen in meine Besuche bei den roten Pinkus-Leuten, wurde aber bitter enttäuscht. Die Mitarbeiter mochten sich selber nicht leiden. Da half auch die großartige Persönlichkeit von Pinkus, der damals wohl schon krank war, nicht weiter. Ein "weniger gelungenes" Modell.

Später erfuhr ich, daß ich mit meinen Erwartungen nur durch den Gotthard-Tunnel hätte fahren müssen, um in Oberitalien exakt jene freie, vergnügliche, offene kommunistische Geisteskultur bei Verlagen, Filmunternehmungen und gerade auch in Buchantiquariaten zu finden, nach der ich in Berlin und Zürich vergebens gesucht hatte. Schade, eine verpaßte Chance - von meinem großen Latinum aus wäre Italienisch erlernbar gewesen.

4.
Ich bin der zweitärmste Antiquar von einem knappen Dutzend Berufskollegen in Freiburg. Darauf bilde ich mir wenig ein, schäme mich aber auch nicht, denn ich habe ein sehr großes und sehr spezielles Lager, das sich nur nicht so leicht zu Geld machen läßt, und im Ankauf bin ich für faire Preise bekannt. Aber wovon ich morgen leben soll, weiß ich eigentlich nicht. Manche Kollegen können mit Geld umgehen, andere können es nicht. Ich kann es  n i c h t, und also trabe ich vergnügt über die Kaiserstraße, bis mich freundliche ältere Damen auf Löcher im Rockärmel und zweierlei Socken aufmerksam machen.

Davon wollte ich nur insoweit sprechen, als ich trotz offenkundiger Vernachlässigung die gleiche Erfahrung mache, die - jedenfalls in Universitätsstädten - meinen Mitantiquaren auch zuteil wird: Wir verfügen über einen erstaunlich guten und fast nicht zu erschütternden Ruf in Sachen Geistesleben. "Ach, Sie sind Antiquar!", und schon ziehen einen Professoren, Zahnärzte, Pfarrer und Marktfrauen in Gespräche, die sie sonst in dieser Form mit kaum Jemandem führen würden.

Das ist zwar etwas mühsam, weil man diesem Ruf ja auch gerecht werden will, sich also Zeit nehmen und ein exzellentes Gedächtnis für angelesene Fakten aus allen Gebieten haben muß - aber es bauchpinselt auch. Es ist ein schönes Gefühl. Inmitten seiner staubigen zweifelhaften Hallen ist man doch ein besonderer kleiner Herrscher in den Augen der Leute.

Solches gilt es, glaube ich, in die "Marketingkonzepte", an denen wir alle zur Zeit sitzen, einzubauen. Nur keine falsche Bescheidenheit!

Viertel nach ein Uhr früh, Zeit für den Abendkrimi, ohne den ich nicht einschlafen mag. Konrad Adenauer hätte mich verstanden.