Dienstag, 11. Oktober 2011

Was der ZVAB-Büchermichel nicht leistet


Das Thema ist auf den ersten Blick ebenso kompliziert wie ernüchternd. Niemand nimmt sich begeistert solcher Fragen an, sowas läßt sich auch beim besten Willen nicht unterhaltsam darstellen. Bei näherem Hinsehen werden aber - ganz unvermutet - Querverbindungen zu einigen zentralen Anliegen unseres Gewerbes sichtbar. Vielleicht bringe ich in schlichten Worten die Fakten zu meinem Bücher-Michel, um eine Diskussion der Unterschiede zum Schwaneberger-ZVAB-Modell zu ermöglichen.

Die wichtigste Aufgabe meines "Bücher-Michel" ist die Gesamtdarstellung jedes Sammelgebiets, jedes Sachbereichs im Antiquariat, so wie das der "Michel-Katalog" für den Markensammler leistet.

Büchersammler, Händler, Bibliothekar, Wissenschaftler, jeder, der ein Gebiet mehr oder weniger systematisch bearbeiten, sich in ihm zurechtfinden will, hat in seiner Vorstellung die Bücherwelt als eine Art  L a n d s c h a f t. Berge, Städte, Burgen, bemerkenswerte Bäume, Räuberhöhlen, stürmische Meere markieren einzelne Bücher oder ganze Reihen und Sachgruppen. Wer die Musiklandschaften bei Heimeran - schon lang nicht mehr lieferbar - gesehen hat, kennt das System von den Komponisten und Musikarten her.

Die Bücherwelt eines Sachgebiets wird also nicht durch Aneinanderreihen von Einzeltiteln "gemerkt" und erinnert, sondern topographisch als eine Art Gedächtnislandschaft. Das Gehirn arbeitet sehr vernünftig, denn nur so lassen sich vielfältige Querverbindungen ziehen, können Bücher ungefähr eingeordnet, annähernd bewertet werden. Die Mnemotechnik, ein leider derzeit fast vergessenes Gebiet der Psychologie, hat dazu schon viel erarbeitet.

Unsere Bücherdatenbanken können nur Einzeltitel anbieten, sie sind so angelegt, so funktionieren sie. Ich habe schon öfter Zweifel angemeldet, ob wir nicht vom Anbieten der Einzeltitel wegkommen und mehr und mehr Lose, Konvolute, Sachgebietszusammenstellungen als Ganzes verkaufen sollten. Denn die meisten Kunden kennen keine Einzeltitel oder aber - noch schlimmer - sie suchen Einzeltitel aus der Verlegenheit eines pars pro toto-Wissens heraus, vom Hörensagen vielleicht oder durch zufällige Literaturangaben.

Wie bitte sollen wir denn unsere älteren Bestände verkaufen, wenn die Kunden nur einzelne alte Titel kennen oder gar keine? Ist es nicht unsere erste, natürliche Aufgabe, die retrospektive Literaturkenntnis der Bücherkäufer zu befördern, sie überhaupt erst möglich zu machen?

Hier liegt der Kern meines "Bücher-Michel". Ich hatte von Anfang an gefordert, die  P r e i s l i s t e  zu kombinieren mit einer retrospektiven, also rückwärtsgewandten bibliographischen  Ü b e r s i c h t  jedes unserer Sachgebiete im Antiquariat.

Nichts anderes macht ja der klassische Briefmarkenkatalog. Auch er geht davon aus, daß man dem Sammler erst einmal die Marken des Gebiets auflisten, vorstellen muß. - Schon sehr früh haben die Markenkataloge, trotz der damit verbundenen unendlich mühsamen Herstellung vieler kleiner Klischees, das Visuelle genutzt, in der richtigen Erkenntnis, daß die bildmäßige Erinnerung des Sammlers jene topographische Feldorientierung befördert, die der Sammler besitzen muß, wenn er sein Gebiet im Kopf haben will.

Eine weitere selbstverständliche Methode schon der ältesten Markenkataloge war die Bildung von Mittelpreisen, von typischen Durchschnittsbewertungen jeder Marke, oft ergänzt mit Erklärungen zu wertsteigernden oder wertmindernden Faktoren, bezogen auf die individuelle Marke oder auf das ganze Sammelgebiet. Hier ist die Parallele zu den Büchersammelgebieten perfekt, denn nicht anders wird man bei so unterschiedlichen Erhaltungs- und Bewertungsgebieten wie etwa "Baedeker" und "Abenteuerroman" vorgehen. Dieser Mittelpreis, den ich lieber den  t y p i s c h e n  Preis nennen möchte, wurde schon immer als genaue, festgesetzte Mittelzahl angegeben. Es ist dem Gedächtnis nicht förderlich, wenn man umständliche "von - bis"-Notierungen im Kopf behalten soll - eine klare Mittelzahl, die in der Art ihrer Festsetzung durch den ganzen Katalog gleichmäßig durchgeführt wird, nützt viel mehr.

Die Reihung der Titel jedes Sachgebiets folgt in meinem Büchermichel im Prinzip einer Zeitschiene. Aber es kann, wie bei den Briefmarkenkatalogen auch, sinnvoll sein, eine Mehrzahl von Neben-, Rand- und Sondergebieten je nach Eigenart des Sachgebiets einzuführen.

Nehmen wir als Beispiel das Sammelgebiet "Geographie, Reisen, Übersee". Neben "Reiseführern nach Reihen" wird man "Landkarten" gesondert aufführen, Zeitschriften wie etwa "Petermanns Mitteilungen" würde man als gesonderte Blöcke bringen mitsamt ihren vielen Sonder- und Beiheften. Man wird das Sammelgebiet aufteilen und jeden Kontinent gesondert bringen, allen vorangestellt drei Abteilungen "Allgemeine Geographie", "Weltreise" und "Schulbücher".

So etwa dürften die ersten groben Einteilungen laufen. Jedes dieser Untergebiete wird dann chronologisch ausgefüllt, wobei man bedeutende, bekannte, wichtige Werke in Rot drucken wird. Auch die Ausstattung mit Daumennagelbildern wird nach Bedeutung und Verbreitung des jeweiligen Titels vorzunehmen sein. Im Übrigen tritt die Kunst des  W e g l a s s e n s  in ihr Recht. Man kann Gebiete wie "Afrika" recht gut mit zwei- bis dreihundert Titeln durchführen, das gibt schon ein brauchbares topographisches Bild für den Büchersammler und Nutzer. Der Büchermichel nimmt natürlich nur  d e u t s c h sprachige Titel auf.

Wie beim Briefmarkenkatalog lassen sich dann kleine Teilausgaben mit großen Gesamtkatalogen kombinieren. Ein schmales Heft, Teil des Bücher-Michel, der auf etwa 100 Seiten A4 das Sammelgebiet "Übersee" enthält, würde durchaus zu einer Bibel des Sammlers alter Reiseliteratur werden können.

Nicht nur weil die Qualität unserer Titelaufnahmen stark schwankt, sondern aus wichtigen erinnerungstechnischen Erwägungen darf man nicht daran denken, vollständige Titelaufnahmen zu bringen. Was Verfasser und  K u r z t i t e l   leisten können, das haben uns schon die uralten Monatsverzeichnisse des Buchhandels, Hinrichs und andere, im 19. Jahrhundert vorgemacht. Der Leser des Bücher-Michel nach meinem System benutzt die Kataloge nicht als Hilfsmittel zur exakten Titelaufnahme, auch nicht zur Detailbestimmung der Seitenzahlen, Tafeln und Karten. Dazu gibt es inzwischen andere Hilfsmittel in Masse, immer wichtiger übrigens hier der Karlsruhe Katalog KIT/KVK, ungeachtet aller Detailmängel bei den öffentlichen Titelaufnahmen.

Ganz selbstverständlich erfolgt aus der Philatelie die Übernahme festgelegter, vereinbarter und soweit möglich definierter  N o r m a l z u s t ä n d e  bei der Festsetzung der Mittelpreise. Wie im Briefmarkenbereich muß das je nach Sachgebiet individuell vereinbart sein, es wird am Kopf jedes Sachgebiets vermerkt.

Damit ist das Pflichtenheft für den "Büchermichel" in etwa geschildert. Vernünftig wird sein, den Anfang der ISBN-Nummerung als Ende der Aufnahmezeit festzulegen, auch wenn im Einzelfall Titel nach 1970 recht interessant sein könnten.

Noch ein Wort zur Arbeitstechnik: Es ist ein Trugschluß anzunehmen, die Erstellung eines Bücherkatalogs nach meinem System sei besonders zeitaufwendig. Man nutzt bis zur letzten Stufe, in der "händisch" gedacht und geschrieben werden muß, alle Hilfsmittel der Elektronik. Erst dann beginnt

a) die Auswahl der aufzunehmenden Titel
b) die Festlegung des Kurztitels
c) die Ermittlung des typischen Mittelpreises (unter Beachtung der vereinbarten Zustandskriterien der "mittleren Erhaltung".

Mit etwas Routine geht das flott wie's Brötchenbacken, es ist eher schneller und eleganter zu leisten als z.B. die Ermittlung der Briefmarkenpreise.

Der "Büchermichel" macht dem Büchersammler  A p p e t i t, er informiert ihn über sein Gesamtgebiet, in vielen Fällen konstituiert er ein Sammelgebiet erst (übrigens eine spannende Frage, aber lassen wir das für den Augenblick unerörtert).

Nun noch einen Ausblick auf den erwarteten Synergieeffekt.

Es ist im Prinzip möglich, einzelne Teile des Büchermichel zur Erstellung von Fachkatalogen zu nutzen in der Form, daß der Antiquar vorhandene Titel farblich markiert, mit seinen eigenen Preisen versieht, seine Werbung und/oder seine Listen an einen Auszug des Büchermichel anhängt. Hier muß eine sehr liberale Verlagspolitik vorgesehen werden, ist doch der Büchermichel ein Werbeinstrument, eine neue Verkaufsmaschine für das Antiquariat überhaupt, sozusagen mit gemeinnützigem Charakter.

In einer weiteren Stufe sorgt die  B e n u m m e r u n g  aller Titel jedes Sachgebiets dafür, daß man sich in Zukunft schon durch genaue Nummernangabe über Bestände, Angebote, Desiderata verständigen kann, nicht anders als das bei jedem Briefmarkenkatalog der Fall ist.

Vielleicht findet sich eine gute Seele, die diesen - bewußt unpolemisch gehaltenen - Text zur Diskussion in der Buchmesse am Freitag mitbringt und durch die AG verteilen läßt, wenn Schwaneberger  s e i n e n  Büchermichel vorstellt.

Ich bin dazu nicht befugt. Freuen würde ich mich, wenn sich die Diskussion nicht nur auf die Frage beschränken würde: "Welche Auswirkung hat die Kodifizierung typischer Mittelpreise auf die zukünftige An- und Verkaufspolitik im Antiquariat?". Wir Antiquare dürfen bei solchen taktischen Fragen nicht stehenbleiben, es geht um Absatzförderung. Alles, was dazu nützt, ist gut, was sie hindert, ist schädlich.


Der guten Ordnung halber: Der Begriff "Michelkatalog" gehört als Markenzeichen dem Schwaneberger-Verlag, auch "Büchermichel" ist nicht frei.