Sonntag, 16. Oktober 2011

Frankfurter Impressionen 2 - das intime Notizbuch

Seit meinem Frankfurter Aufenthalt am Freitag hatte ich nicht eine Stunde freie Zeit zum Nachdenken. Interessanter Selbstversuch gestern den Samstag über: Wenn man einen Tag hindurch, wie es mir gestern geschehen ist, im Ausland reisen und sich dort ausschließlich in einer Fremdsprache verständigen muß, dann bewahrt das Gedächtnis die Ereignisse des davorliegenden Tages ganz frisch. Offenbar kann der Mensch in einer Art Kopfkühlschrank Erinnerungen auslagern, wenn ihn äußere Umstände dazu zwingen. Wobei die Haltbarkeitsdauer im Kühlschrank nicht lang sein dürfte - machen wir uns also gleich an den vertraulicheren Teil meiner Frankfurter Impressionen, ungeordnet, wie sie abrufbar sind im Gedächtnis.

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Kollege Harteveld kenne ich bisher über seine exzellenten Seltenheiten und, wie ich frei bemerken darf, über recht hohe Preisvorstellungen im mittleren Buchbereich, in welchen er sich mitunter begibt, wobei es sich wohl um übriggebliebene alte ZVAB-Bewertungen aus besseren Zeiten handeln dürfte. Wie auch immer, sein Name steht, neben aufrichtiger Hochachtung für seine Arbeit im Edelbereich, auch für öfteres "heftiges Schütteln des Kopfes" meinerseits, der ich im finsteren Mitteldeck des Antiquariatsschiffes zu malochen pflege.

Worum es mir aber heute geht: Seine joviale Art der Meinungsäußerung in Gruppengesprächen macht eine geordnete Diskussion schwer. Man mag ihn wegen der sympathischen Form seiner Poltereien nicht angreifen, auch der Schweizer Dialekt - ich bin selber Viertelschweizer - ist Schuld, denn Harteveld bewegt sich in einer Art Fremdsprache, wenn er Hochdeutsch diskutiert. Ich würde das Phänomen "Harteveld" abhaken mit der Notiz "ein ungewöhnlich sympathischer, sehr sachkundiger Kollege, der Gruppengespräche aber schwierig machen kann" - wäre da nicht meine Beobachtung, daß erstaunlich viele des in Frankfurt vertretenen Typs der Spitzenantiquare im Gegensatz zu ihm sehr still, nahezu scheu, zurückgenommen, oft auch (ich sags im Schweizer Dialekt) "verscheucht", sogar etwas "verschupft" wirken.

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Wie ich mit echter Freude feststellen konnte, ist das Bündel meiner Vorurteile gegen die Edelantiquare unberechtigt und dumm gewesen. Tatsächlich sind diese Leute erstaunlich gebildet, human, freundlich und sensibel. Offenbar war ich früher meist nur auf schwierige Vertreter des Spitzenantiquariats gestoßen und habe mir unsinnige Feindbilder aufgebaut.

Was aber ganz sicher stimmt: Die Antiquare bilden eine

*äußerst schwierige Berufsgruppe, was ihre Diskussionskultur, ihre  M e i n u n g s b i l d u n g  betrifft,

und so mag sich auch die verquere Struktur zwischen Verband, AG, Genossenschaft usw. erklären. Ein funktionierendes gruppendynamisches Modell sich vorzustellen, in dem alle Teilnehmer in Frankfurt sich gleichmäßig und gleichgewichtig äußern und auch durchsetzen könnten, ist sehr schwierig. Ich bringe diese umständlichen Formulierungen, weil ich beim Schreiben hier auch zu denken versuche: Wie bitte kann und muß eine neue Organisationsform im Antiquariat aussehen, in der es zur echten  M e i n u n g s b i l d u n g  kommen kann, weniger "demokratisch" (das Antiquariat ist per se elitär und ganz undemokratisch, aber darüber müßte man gesondert sprechen) als vielmehr um mehrere Diskussionskerne geschart Schwerpunkte bildend.

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Ich gestehe, daß mich Detlef Thursch sehr beeindruckt hat - ein präzise denkender, exzellent formulierender, gelegentlich auch zum Diktatorischen neigender Antiquar und Organisator. Man registriert im ungeschriebenen Notizbuch unwillkürlich (und etwas altmodisch) zu seiner Person: "ein  p a t e n t e r  Kollege", dem man sich ohne Zögern  anvertrauen kann. Solche Menschen sind sehr selten, wo man sie trifft, muß man versuchen sie festzuhalten, denn man findet sie so schnell nicht wieder. Thursch könnte ich mir als Leitperson denken, die das Antiquariat in seiner jetzigen schwierigen Lage souverän, (nicht zu) liebenswürdig, in der Sache knallhart, in der Form aber kooperativ weiterbringen und, man verzeihe mir, f ü h r e n  könnte. Ich habe das kurze Dreiergespräch, in das wir durch Zufall geraten waren, sehr aufmerksam registriert.

Jörg Mewes ist nicht jünger geworden im Lauf der Jahre und kam mir recht desillusioniert vor. Was ihn grundsätzlich enttäuscht haben mag, ihm seine Blütenträume geraubt hat, weiß ich nicht, aber selten habe ich so das Bedürfnis empfunden, jemandem zuzurufen: "Mann, draußen scheint die Sonne, man kann noch Pläne machen - wo bleibt Ihr Spaß an der Sache, was kann ich nur tun, um Ihnen neuen Mut zu machen?".  Ich kenne sein Geheimnis nicht, er hat eines, das ihn quält, das ist spürbar. Oder er ist nur einfach aller Illusionen beraubt, wie auch immer - möge er wieder fröhlich werden!

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Sich mit einem Menschen bald ein Jahrzehnt hindurch virtuell zu bekriegen, ohne ihm je persönlich begegnet zu sein, das ist eine skurrile Situation, die in der Dichtung schon öfter behandelt worden ist - Biester und ich, wir sind ein literarischer Topos. Ich habe vorgestern schon etwas dazu geschrieben. Ergänzend vielleicht noch die Feststellung, daß das erzkonservative, bis auf den Millimeter korrekte äußere Auftreten Biesters (ich klaue ihm im internen Notizbuch einfachheitshalber den Doktor) , daß dieses "Aufbrezeln" nach Art eines hanseatischen Kaufmanns ihm nicht nur nicht steht, sondern seine Außenwirkung auf eine Ebene schiebt, die ihm nicht recht sein kann.

Er sieht sich, si je ne me trompe pas, als Buchwissenschaftler, genauer gesagt als der große Chronist des Antiquariatsbuchhandels nicht nur in Deutschland, sondern weltweit (freilich lyrisch und begeistert wird er nur, wenn die Rede auf englisch-amerikanische Kollegen und Betriebe kommt - ob er das weiß?) - - und das  i s t  er auch. Aber Näheres weiß man nicht - arbeitet er aus dem Zettelkasten oder trägt er, wie es zum Beispiel bei mir der Fall ist, sein Wissen eher im Kopf spazieren? Er  w i r k t  als Zettelkastenmensch und vermittelt diesen Eindruck durch sein perfektes Auftreten im Stil "Ein Hamburgischer Kaufmann", tatsächlich aber scheint er mir ein echter, tiefbegeisterter Grundlagenkenner des Antiquariats aus dem Kopf, wo nicht aus der Seele zu sein.

Worauf sich meine Hauptkritik denn auch konzentriert - er hat sich irgendwann das jetzige Image zugelegt und kommt nun nicht mehr heraus. Das ist fatal, denn ich weiß aus einigen Einschätzungen seiner Person durch solche Kollegen, auf deren Urteil ich viel gebe,  daß ihm oft Unrecht geschieht. Er wird prompt so eingeschätzt, wie er uns seine äußere Rolle vorführt.

Tatsächlich halte ich ihn für einen Universitätsmenschen, einen Forscher und Lehrer, akademischer Oberbau im besten Sinn, Stil britisches  C o l l e g e. Hier forscht er und arbeitet zugleich kooperativ mit seinen Studenten und mit jenem sympathischen Netzwerk interessierter Fachgenossen, das uns das angelsächsisch Campusleben so angenehm macht.

Dies also ist seine wirkliche Welt. Welches Unglück hat ihn betroffen, daß er seinen Typ verleugnen und nun als verhinderter, geknebelter und auf tausend diplomatische Fallgruben Rücksicht nehmender gehobener Kaufmann daherkommen muß? Sein wahres Image kennzeichnet zum Beispiel eine lockere, britische Salz- und Pfeffer-Tweedjacke im britischen Universitätsstil, leicht vergammelt, jederzeit eine alte Pfeife aus einer der vielen ausgebeulten Taschen ziehend (nota: die Jacke war sehr teuer, dieser Stil ist nicht etwa "billig"), seine Brille ist eine freundliche braungelbe Hornbrille.

Dann gibt sich auch jenes formale Korrektseinwollen, das manche Kollegen äußerst befremdet bei ihm. Unser Gewerbe ist auf allen Ebenen, man kann es drehen und wenden wie man will, gemäßigt chaotisch, es bedarf einiger kreativer Phantasie. Harter und präziser Realtätssinn nach Schema Thursch verträgt sich (interessanterweise) mit diesem Künstlerischen sehr gut im Antiquariat, ganz gewiß aber nicht die "Ein Hamburger Kaufmann"-Pingeligkeit, die sich Biester zum Image erkiest hat.

Überlegungen solcher Art, die beliebig fortgesetzt werden könnten, sind sehr wichtig. Wer in einem Gewerbe, das noch keine festen allgemeinen Organisationsstrukturen hat, Leitungsfunktionen ausübt, den sieht man sich mit Vorteil näher an. Ich bin davon überzeugt, daß Menschen wie Biester sich durch das Finden ihres wahren äußeren Stils ,ihres echten Images zu ungeahnten Aufschwüngen, Ideen und Einsichten durchringen können. Eine britische Tweedjacke ist mehr als nur einfach eine Jacke...

(ein dritter Teil der Frankfurter Erinnerungen folgt)