Freitag, 21. Oktober 2011

Das "Haus der Bücher" - Trick 7 im Antiquariat

(Zur Feier des Blogbeitrags Nr. 200)

Es gibt Texte, die nicht jeder schreiben darf. Wenn ich mich heute zur Generalabrechnung mit dem Anbieten und dem Verkauf unserer alten Bücher im Internet anschicke, dann geschieht das vor dem Hintergrund meiner bisher 199 Blogbeiträge, die sich um die Mittelpunkte Antiquariat und Internet gruppieren, mit allen Detailfragen, unter vielen Gesichtspunkten.

Zunächst gilt es, vom Scheitern zu berichten, von Mißerfolgen und Hindernissen, die zu überwinden sich als unmöglich erwiesen hat.

1.
Das retrospektive Bibliographieren, die Information über Bücherarten und Buchinhalte im Internet ist für die meisten Menschen zu schwierig. Es ist auch nicht möglich, ihnen das notwendige Handwerkszeug bereitzustellen, finden sich doch selbst ausgewiesene Universitätslehrkräfte oft nicht zurecht zwischen KVK, Google Books, Fachdokumentationen und Wiki.

2.
Die Versuche, retrospektives Buchwissen über unsere Datenbanken/ Verkaufsportale oder gar in den Antiquariatswebseiten zur Verfügung zu stellen, sind bisher kläglich gescheitert und haben auch in Zukunft keine Chance verwirklicht zu werden, weil hier jeweils händische Arbeit, anspruchsvolle retrobibliographische Leistung angesagt ist, die niemand bezahlen kann und will.

3.
Automatisierte Stichworteinteilungen und Schlagwortlisten sind für historische Buchabfragen, die über Verfasser- und Titelnachfragen hinausgehen, immer nur ganz unzureichendes Stückwerk. Es gibt im Grunde keine echten "Fachkataloge", die automatisch generiert werden können. Der beste Weg wäre noch das von Amazon und in Ansätzen auch von Abebooks verwirklichte Netzwerk mit "...hat auch gekauft..." und diverse Besprechungsdienste, aber hier dauert es, anders als bei noch lieferbaren und sonst neuesten Titeln, viel zu lang, bis Derartiges retrobibliographisch nutzbar würde.

4.
Die rücklaufende bibliographische Titel-Kenntnis ist bescheiden - am besten sind noch Hobbygebiete und Hochpreistitel bei potentiellen Käufern bekannt -, noch kläglicher ist es um das Wissen der tatsächlichen Buchinhalte bestellt und völlige Unwissenheit breitet sich aus bei Fragen der sachlichen Bewertung und Brauchbarkeit älterer Titel. Dem wäre abzuhelfen nur durch den großen, von mir angedachten und unlängst neu hier dargestellten "Bücher-Michel", den aber niemand finanzieren kann und dessen Erstellung Jahre beanspruchen würde.  Ich sehe noch das Entsetzen des Schwaneberger-Chefs vor mir, als ich vergangene Woche bei der Jahrestagung der AG im Börsenverein  in Frankfurt davon sprach, daß der "Bücher-Michel" als Nachschlagewerk echte redaktionelle Arbeit fordern würde, er sei automatisch nicht zu erstellen.


Wenn ich einen Titel nicht kenne, dann kaufe ich ihn auch nicht. Habe ich mich bis zum Titel und zu ein, zwei Inhaltsstichworten durchgearbeitet, weiß ich immer noch nichts über die Brauchbarkeit und Wünschbarkeit des Buchs gerade für meine eigenen Zwecke.

Theoretisch könnte man mit Google-Scans und sogar mit Google-"Snippets" näheres Wissen zum Inhalt erlangen. Die dazu notwendigen Internet-Techniken sind aber ungemein schwierig und lassen sich auch kaum vereinfachen. Wer je seinem Kunden versucht hat, solche elementaren Zugangstechniken zu vermitteln, der weiß, wie und warum das für 95 % unserer Altbuchkunden nicht zu machen ist. Sie können es nicht, und wenn sie es können, dann wollen sie es nicht. Sinnlos, über diesen Punkt weiter nachzudenken.

Halten wir hier inne und fassen wir zusammen: Praktisch alle unserer möglichen Kunden haben nur äußerst bescheidene oder gar keine Kenntnis von der Ware, die wir für sie bereithalten und verkaufen wollen. Wir bieten eine Ware feil, über die die angedachten Abnehmer viel zu wenig, oft fast gar nichts, schon gar nichts Wesentliches wissen.

***

Wir werden später sehen, daß diese Regeln für drei Buchgattungen im Antiquariat nicht oder doch nur beschränkt gelten, für die seltenen Bücher vom unteren Versteigerungsbereich an aufwärts, für die typischen Fachkatalog-Titel bei strenger Auslegung des Begriffs und für neueste Bücher aus den letzten zehn bis zwanzig Jahren.

Alle anderen Titel im Antiquariat, (also etwa 70-80 % unserer Ware) sind im Netz nur unzulänglich abzusetzen, der Netzverkauf ist für sie eine ungeschickte Krücke, eine Notlösung. Was aber dann?

Vor etwa zehn Jahren hatte ich in der Hess-Runde den daran beteiligten 250 Antiquaren sehr ausführlich ein Modell vorgestellt, das wenig später im Wirbel um den Erwerb des ZVAB untergegangen ist. Ein Freiburger Kollege, den ich unlängst antraf, erinnerte sich nach den langen Jahren präzise an alle Einzelheiten. Er schloß mit der Bemerkung, daß er sich daran aus der Rückschau gern beteiligt hätte. Das gab mir zu denken: So schlecht konnte mein Entwurf also doch nicht gewesen sein. Es handelt sich um die erste Fassung meines

H a u s e s  d e r  B ü c h e r.

Ich gehe davon aus, heute mehr denn je, daß in der räumlichen Zusammenführung, allein schon durch örtliche Konzentration, ein gar nicht hoch genug zu bewertender Imagegewinn (ein Werbewert, eine Erinnerungskraft) liegt, ohne Inserategebühren, gratis als Nebenprodukt einer vernünftigen Überlegung vom Kunden aus.

Der Kunde nämlich sagt sich (dies ist der Kern meiner Idee), daß er lange Wege nicht zu machen gewillt ist, daß er keine Zeit verlieren möchte, daß er vergleichen will und Abwechslung schätzt.

Das "Haus der Bücher" vereinigt mehrere Antiquariate und eine Neubuchhandlung in einem Innenstadt-Haus. Die Miete ist nach Stockwerken gestaffelt, das Erdgeschoß kommt recht teuer, nach oben hin wird das Mietgeld progressiv niedriger.

Ist der Kunde, der überhaupt, um mit Wattig zu reden "was mit Büchern macht", erst einmal im Haus, wird er der Versuchung nur selten widerstehen, auch die anderen Altbuchgeschäfte zu besuchen; als Antiquariatskunde wird er seine Bestellungen auf Neubücher der Buchhandlung im Erdgeschoß zuwenden - es ist so praktisch! Dieses Modell ist mit "Synergieeffekt" nur unzureichend zu beschreiben, es findet eine "Anmutung" statt, ein (heiliger oder unheiliger)  G e i s t  wird geschaffen, auch dies einfach durch die Ansammlung, die Kumulierung von Büchern und von Antiquaren (und Buchhändlern). 

Man kann den Grundgedanken nun nach gusto ausbauen. Gesellige Naturen, wie ich eine bin, würden versuchen, das Abenteuer  e i n e s  großen Antiquariats mit gleichgeordneten Beständen und separater Preisauszeichung  a l l e r  teilnehmenden Kollegen zu verwirklichen, in der Regel aber möchte jeder Antiquar und der Buchhändler sowieso sein eigenes Ding haben, Stockwerk, sogar Stockwerkshälfte. Dann geht der Kunde von Geschäft zu Geschäft, trockenen Fußes im gleichen Haus.

Das Hindernis des Treppensteigens betrifft uns Antiquare eher weniger. Unsere Kunden sind ganz überwiegend ältere und alte Männer, die in der Regel erstaunlich gut zu Fuß sind und zwecks religiöser Selbstkasteiung, Disziplin oder zur Pflege ihres Altersmasochismus ganz gern die Mühsal des Treppensteigens auf sich nehmen - Frauen würden das nie tun. - Mit viel Hingabe wird man die Chance nutzen, Personal einzusparen durch gemeinsame Überwachung und zentrales Kassieren im Antiquariatsbereich, wie denn die Personaleinsparung größer sein kann als der Effekt einer billigeren Miete. Ganz vorn beim Nutzen sehe ich aber immer den Werbewert.

***

Wenn die im ersten Teil dieses Aufsatzes formulierten Hypothesen zutreffen, und keiner wird das Gegenteil behaupten wollen, dann ist der Absatz unserer älteren und alten Bücher über die großen Verkaufsdatenbanken  ein Notbehelf, eine Krücke mit vielen Mängeln. Diese Mängel sind so gravierend, daß der Rückgang im Verkauf antiquarischer Bücher vermutlich nur und allein darauf zurückzuführen ist. Und was läge denn auch näher: Ein Buch, das ich im vordergründigen wie im tieferen Sinn nicht  k e n n e, das kaufe ich nicht!

Es wurde monatelang in unseren Medien gesprochen von der "Haptik" des Buchs im Ladenantiquariat, ich gestehe, ebensowenig aus der Zwickmühle des Denkens herausgekommen zu sein. Waren wir denn blind? Die Lösung liegt irgendwo anders - wenn ich ein Buch zur Hand nehmen kann, es anblättere, das Inhaltvsverzeichnis überfliege, zwei Sätze aus dem Vorwort und eine halbe Seite irgendwo im Innern lese - dann weiß ich in etwa, was das Buch ist, sein kann, bedeuten mag für mich. Will ich Näheres wissen, dann kann ich mich tiefer hineinlesen, erinnere ich mich an dieses oder ein ähnliches Buch, kürze ich das Verfahren auf Sekunden ab. Ich habe als Kunde die  F r e i h e i t, mich so zu informieren über jedes Buch, wie ich es brauche, wie ich es will.

D a s  ist  L a d e n a n t i q u a r i a t, darum geht es - Information in Freiheit.

Und natürlich schnell, und billig. Ich kann wiederkommen, weitere Titel kaufen, die ich mir schon vorgemerkt habe im Geiste.

Den Schnelligkeitsaspekt unterschätzt man gern - wie mühsam ist für die meisten älteren Menschein eine Netzbestellung. Und die Kosten für jeden Einzelversand, Arbeitszeit für den Antiquar hinzu, wer das auf den jeweiligen übers Netz verkauften Titel umrechnet, wird sich wundern...

Präsent dagegen ist jedem Kollegen die unsägliche Mühe der Titelaufnahme, denn zu dieser Zeit muß ja die der "dauernd unverkauften" Titel addiert werden, bei mir war das immer mindestens x 5, sodaß aus einer schnellen Titelaufnahme von 3 Minuten je tatsächlich verkauftem Buch 18 Minuten werden, eine grauenhafte Vernutzung der Lebenszeit. Werte Kollegen, ich meine es genau so - Lebenszeitvernutzung.

Anmerkung zur Ladenarbeit: Ladentitel unter etwa 30 Euro sehen wir nicht im Internet nach - Preis nach Gefühl. Sie werden erstaunt sein, wieviele Kunden das akzeptieren und wie selten im Billigbereich durch den Käufer im Laden "Vergleiche" mit dem Internet angestellt werden.  Viel wichtiger als Preisfuchserei ist das Einstellen nach vernünftigen, detaillierten Sachgebieten!

Nicht nur der Kunde orientiert sich gefühlsmäßig schnell und gern innerhalb der Sachgebiete im Laden, auch der Antiquar selbst zieht daraus viel Gewinn. In meinem ersten Hinterhof-Laden, ein wahres Ikea-Sten-Museum, wußte ich nach einigen Jahren wie im Traum, wo welche Bücher standen, und das bei 12.000 Titeln. Man liebt als Buchantiquar wieder die Bücher, wenn man sie nicht zum Versand bereithalten muß, sondern in und mit ihnen leben darf. Es ist ein ganz anderes Arbeiten.

***

Und nun zum Kern des Plans. So wie der Antiquar räumlich im Ankauf sein Gebiet erfaßt und abdeckt, so richtet er sich auch räumlich ein im Absatz:

Im Einzugsgebiet seines Ladens wird er zum Milchladen, zur T a n k s t e l l e  im Bereich der alten Bücher. Man muß das erlebt haben, wie viel einfacher, schneller und erfreulicher es für den Kunden geht, wenn er sein altes Buch vor dem Kauf sehen, durchblättern, aus mehreren auswählen, den Zustand prüfen, sein Budget austarieren kann, Alternativtitel findet, an die er nicht gedacht, von denen er vorher gar nichts gewußt hatte.

Diejenigen Kunden, die partout ein bestimmtes Buch und  n u r  dieses suchen, sind viel seltener, als es uns die Portale weis machen wollen. Wir bedienen die meisten Kunden viel besser, wenn wir ihnen eine  A u s w a h l  ihres Interessen g e b i e t s  bieten können - ad oculos, zur Hand.

Dies alles scheitert aber kläglich und jämmerlich, wenn dabei nicht der "Trick 7" angewendet wird. Der besteht nun einmal in jenem uralten Mulzer-Modell vom gemeinsamen "Haus der Bücher". Nur so ist das heute machbar - keine Illusionen bitte! MIt voller Miete und ohne den Synergie- und Werbe-Zusatzwert des Modells kann sich ein Einzelantiquar in der Innenstadt kaum mehr halten.

Damit die Antiquare nicht in alte Denkschienen zurückfallen, liste ich den Nutzen des Modells noch einmal mit Prozentzahlen der Wichtigkeit auf:

1) fast gratis zu habender Werbewert am Ort  40%
2) Miet- und Personaleinsparung  30 %
3) freundnachbarlicher Austausch unter den Mietern, nicht "allein"  10 %
4) Hin- und Herschieben von Beständen, Sachgebieten, Kunden  10 %
5) Imageaufwertung (für die Antiquare durch den beteiligten Neubuchhändler im Erdgeschoß, für den Neubuchhändler durch die Antiquariate) 10 %

Ich schätze den örtlichen Bekanntheitsschub ("ja, die Antiquariate und eine Buchhandlung, die sind im "Haus der Bücher" in der Lortzingstraße, davon habe ich gehört") noch höher ein als die doch sehr beträchtliche Mieteinsparung - ich weiß warum. Sie vermissen vielleicht den Nutzen-Ansatz eines internen Mehrverkaufs, aber diese Chance bietet das "Haus der Bücher" eher nicht, denn die Konkurrenz sitzt ja Tür an Tür und das hebt sich dann gegenseitig auf.

***

Von versteigerungsfähigen Titeln und von typischen Fachkatalog-Beständen abgesehen bedeutet das neue Modell

das  E n d e  des Verkaufs über die  P o r t a l e.

Damit ist auch die leidige - und gefährliche - Amazon-Abebooks-ZVAB-Frage vom Tisch. Die Datenbanken werden in kurzer Zeit ganz ausgetrocknet. Der Umsatz, die Kosten, der Zeitaufwand  s p r i c h t, und bald werden wir uns an die Verkaufsportale nur noch mit stiller Rührung erinnern.

Der gesamtdeutsche Absatz mit seiner elenden Konkurrenz und der würgenden Abhängigkeit wird ersetzt durch die regionale Bearbeitung, den regionalen Kundenkontakt. Der Antiquar wird wieder das, was er einmal war.

Weil man Wichtiges wiederholen soll, sage ich zum Schluß ein drittes Mal, daß es nicht mit Bücherdörfern, nicht mit ländlichen Standorten, schon gar nicht mit billigen Einzelläden in Vororten oder teuren Geschäften in der Innenstadt geht, sondern  n u r  so:

- unabhängige kleinere Buchhandlung als Partner im EG,
- mehrere Antiquariate (mindestens 2) in den oberen Stockwerken
- breites Allgemeinsortiment
- Preise bis 30 Euro ohne Rücksicht auf Internet
- sehr gute und klare Sachgebietseinteilung

und das Grundgefühl, zusammen mit Kollegen oder allein Sachwalter der Büchersammler jeder Couleur in einer  R e g i o n  zu sein.

Schluß mit der drögen Webseitenarbeit für untere und mittlere Titel, Schluß mit dem Versenden kleinerer Titel via Bücherportale, Austrocknen der Portale durch Ladenverkauf, gute Innenstadtlage -  im "Haus der Bücher".


Wir danken Anjas-Puppenstube für die Ausleihe des schönen Fotos