Dienstag, 18. Oktober 2011

Sind alle Antiquare sozial depressiv?


Sind alle Antiquare sozial depressiv?
Frankfurter Erfahrungen - des Pudels Kern oder: Freud in der Absatzförderung



Man mißtraut zurecht theoretischen Erörterungen, denen praktische Berufserfahrung oder unmittelbare Anschauung als Unterbau fehlt. Dagegen ist es immer reizvoll, vom Angeschauten und Beobachteten hochzuklettern in eine Theorie.

So geht es nun mir. Die menschlichen und sachlichen Erlebnisse eines langen Tages in Frankfurt gilt es in mein bisheriges Modell des Antiquariatswesens einzubauen und, wo dies nicht gelingt, muß das Gebäude im Kopf  umgebaut oder eingerissen werden. In jedem Fall hat die praktische Anschauung Vorfahrt, müssen Wolkenschiebereien nachgeprüft werden.

1.
Das soziale Ungeschick der Antiquare

Es wird behauptet, die meisten Antiquare seien angelernte Autodidakten, ihre Fachkenntnisse mit wenigen Ausnahmen bescheiden, vor allem aber unwissenschaftlich. Das hört man oft von formal ausgebildeten Akademikern, bei Bibliothekaren, Juristen, Historikern ist wenig Gutes zu vernehmen über Exponenten unseres Gewerbes.

Dieses Vorurteil habe ich schon immer für ungerecht gehalten. Ich kann, auch gestützt durch Gespräche in Frankfurt mit mir bisher unbekannt gewesenen Kollegen, als Tatsache feststellen: Das  F a c h w i s s e n  auf ihrem jeweiligen Arbeitsgebiet ist bei den allermeisten Antiquaren der Messeebene ganz vorzüglich, weitaus besser als erwartet und über jede schnöselige Kritik erhaben. Ich halte manche Bibliothekare für erheblich dümmer als die zugehörigen Fachantiquare.

Nicht ganz gilt dies für die menschlichen Eigenschaften. Jedem Besucher muß auffallen, daß gerade die besten Antiquare auf "Edelniveau" eine recht sonderbare Auswahl darstellen. Natürlich kann man aus Physiognomien - Lavater, steh mir bei - nur begrenzt Schlüsse ziehen, aber die Erfahrung des Alters hilft mir da schon, und wenige Sätze mit einem Kollegen zu wechseln ist noch lehrreicher. Wie auch immer, mir scheint eine leise Wehmut, ein Hang zum  D e p r e s s i v e n  vorherrschend zu sein. Die Kollegen können sich nicht recht herausstellen, Lebensangst wird deutlich.

Sind das nur Vorurteile?

Wenn ich mir unter dem Eindruck des vergangenen Jahrzehnts die Reihe der Ereignisse, der stattgehabten und noch mehr der unterlassenen Reaktionen seitens der Kollegen als Filmband vorführe und ablaufen lasse im Kopfkino, decken sich die Frankfurter Beobachtungen mit der jüngsten Antiquariatsgeschichte. Der Kern meiner Theorie in knappen Worten:

Die Antiquare im Spitzenbereich und im oberen Mittelfeld sind, bei herausragenden Fachkenntnissen, sozial vorwiegend  d e p r e s s i v,  h a n d l u n g s g e h e m m t  und  s o z i a l  m u t l o s.

Man darf sich da nicht stören lassen durch jenes fröhliche Treiben, wie es uns Biester dankenswerterweise von der ILAB-Ebene her vorgeführt hat (lustig und entlarvend die kleine Kappelei zwischen Biester und Köstler unlängst wegen der Weimarer Völlereien). Im kleinen Kreis sind Antiquare, das kennen wir auch von der Ortsebene, durchaus jovial, gelöst und heiter. Was nicht gelingt, ist das Wirken, Handeln, Planen in etwas größeren sozialen Zusammenhängen.

Sind Antiquare also sozial Handlungsunfähige? In einem tieferen Begriff ganz unbedingt.


2.
Die schäbige Selbstdarstellung der Antiquare

Natürlich werden sich jene Kollegen am Niederrhein und neuerdings leider auch in Berlin, die mich besonders ins Herz geschlossen haben, einschießen auf meine Feststellung von der schäbigen Armseligkeit des Messewesens im Antiquariat.

Ich höre das schon: Anmaßend der, wie heißt er doch gleich, ach ja, Melzer oder Müller oder so, dümmlich und oberflächlich, aus Zürich oder Basel oder auf dem Feldberg oben, von Tuten und Blasen keine Ahnung, soll der es doch besser machen, kleine Klitsche, Hirngespinste, schon altersblind, grüner Star, Maul halten...

Aber da hilft alles nichts - ein neutraler Beobachter wird mir bestätigen, wenn ich Punkt für Punkt erst die äußeren Eindrücke, dann aber vor allem das Gesamtbild der Messeauftritts der Antiquare als  v e r h e e r e n d  bezeichne. Ein inzwischen leider, wenn mich mein Eindruck nicht täuscht, in Sachen Antiquariat recht mutlos gewordener, die rauhe Luft unter uns Antiquaren nicht gewohnter, grundgescheiter Mensch, Pardun (Soloantiquar) hat diesen Punkt instinktiv erfaßt und sofort die  Linie vom katastrophalen Messeauftritt alter Art zum gesamten sozialen Erscheinungsbild und - notabene - zur Absatzmisere im Antiquariat gezogen. Ich habe ihn da nicht verstanden und sein Festbeißen in dieses Thema als manisch abqualifiziert.

Heute weiß ich, daß er Recht hat! Mehr noch, von dem erbärmlich-peinlichen Messeauftritt der besten Antiquare, die wir haben, kann und muß man rückschließen auf die Krankheiten unseres Gewerbes. Logischerweise müssen dort dann auch die Hinweise zur Heilung liegen.

Fragen wir uns nämlich, welche Schicht der Gesamtgesellschaft diese unsere erbärmliche, schäbige Selbstdarstellung am wenigsten verstehen, am heftigsten tadeln würde, dann kommen wir zu den kapitalkräftigen Schicki-Micki-Leuten. Eine nicht sehr sympathische Klientel, zugegeben. Aber die allein kann uns aus der Absatzkrise retten. Das gilt für Titel aus dem unteren Spitzenfeld bis tief ins allgemeine Mittelfeld hinein - die neuen Käuferschichten, auf die wir warten und die wir brauchen, werden durch unsere dümmlich-ärmliche Selbstdarstellung verscheucht, wo nicht sogar angeekelt.

Sie verstehen mich nicht? Das ist fürs erste auch so beabsichtigt, denn dieses Thema werden wir in den nächsten Tagen hier ausführlich erörtern. Ich glaube den Stein der Weisen gefunden zu haben in Frankfurt, der unser Gewerbe aus dem Elend führt.

*

Meine Frankfurter Beobachtungen erklären vieles - weshalb wir zum völlig hilf- und wehrlosen Spielball eines Weltunternehmens wie Amazon werden konnten, weshalb der Verband und die Genossenschaft so sind, wie sie sind, weshalb Biester nicht verstehen kann, daß die  a l t e  Schicht der kundigen Büchersammler einer  n e u e n, viel wichtigeren Käuferschicht im Weg steht, weshalb es im tiefsten Sinn um die  W ü r d e  jedes einzelnen Antiquars geht - - und weshalb sich die Antiquare nicht etwa wundern über ihre Hilflosigkeit, ihr Gebeuteltwerden, ihre immer dürftigeren Reserven im gesamten Mittelfeld, sondern das im Grunde als gerechte Strafe, als passsendes Schicksal ansehen für ihre depressive Seele...

Gegen kollektive und einzelne Depressionen gibt es bewährte Hausmittel. Die wollen wir in den nächsten Tagen anwenden. Von Abebooks über Büchermichel, vom Börsenverein bis zur Genossenschaft, alle müssen jetzt auf die Couch. "Freud und die Marktwirtschaft" - warum nicht?


Das schöne Foto von Freuds Couch ist möglicherweise geschützt, ich weiß es nicht.