Sonntag, 13. November 2011

Sonntagspredigt über Webseitenverbund und Antiquariatsmystik

Wir beschäftigen uns heute mit einigen Bausteinen, die wir zum Aufbau des kommenden Webseitenverbunds verwenden wollen.


Wie kann der  M y t h o s  des Antiquariats neu belebt werden?

"In einem weiteren Sinn bezeichnet Mythos auch Personen, Dinge oder Ereignisse von hoher symbolischer Bedeutung" (Wiki)

Es gibt im Antiquariat eine charismatische, geheimnisvoll wirkende, vom Kunden eingeforderte und vom Antiquar erfüllte Beziehung besonderer Art. Es ist ein Verhängnis, daß die deutschen Antiquariatskenner, von Wendt über Bender bis zu Biester, in den letzten Jahrzehnten mit einer himmelschreienden Nüchternheit begabt waren und sich fast nie mit der besonderen Seelenlage unseres Berufs befaßt hatten.

Diese Versäumnis liegt ganz nahe, es fällt dem unvoreingenommenen Betrachter sofort ins Auge. Wäre es in Frankfurt zu einem längeren Gespräch auf der Antiquariatsmesse zwischen Biester und mir gekommen, hätte ich ihn auf diesen Punkt festgenagelt und eine Art Privatinquisition im Café der schönen schnippischen Damen veranstaltet: Wie bringen Sie, verehrter Herr Doktor, es zuwege, sich beständig um den  K e r n  unseres Gewerbes herumzumogeln?

Derart provoziert hätten wir uns gut kennenlernen können.

Wir sind hier auf schwierigem Gelände. Psychologische Sachverhalte sind sprachlich-begrifflich nie exakt zu fassen, sie müssen umschrieben und angedeutet werden. Immerhin, versuchen wirs.

Das Antiquar ist für den Büchersammler eine Mischung aus

- Hohepriester und Wächter des Tempelschatzes,

- Schacherjude mit schmuddeligen Geheimnissen und großem Schnappsack unbekannten Inhalts,

- Seelenarzt, Hüter der verhehlten Lebensträume, der verpaßten Chancen,

- Drogendealer, der dringendste Sammlerbedürfnisse stillen kann.

Priester ist der Antiquar, weil er das  W i s s e n  der Menschheit verwaltet. Das gilt auch in Internetzeiten, denn nur im Buch haben wir die verdinglichten Wissensschätze. Zumindest unterbewußt ist nur etwas Greifbares, dessen wir uns mit eigenen Händen vergewissern können,  e c h t e s  Wissen. Vielleicht empfinden unsere Enkel das einmal anders.

Schacherjuden sind wir im naiven, nicht allzu böse gemeinten Begriff des 19. Jahrhunderts, etwa in "Soll und Haben" bei Gustav Freytag, weil wir Schätze in der Hinterhand haben, die wir herausgeben können oder auch nicht, mit denen wir Wucher treiben. Von daher die wichtigen Berufsmythen des  L a g e r s, in das der Kunde nicht eintreten darf, oder doch nur in einen Teil, oder nur wenn er zum inneren Kreis der Auserwählten gehört - der  N e u e r w e r b u n g e n, die jungfräulich, mit einem Schamtuch überdeckt, der Deflorierung wiederum nur durch Auserwählte harren - der B i e t e r k o n k u r r e n z, wenn zwei oder mehr Sammler wie die läufigen Kater um eine begehrte Zimelie herumstreichen, während der Antiquar lächelnd dabeisitzt und die Situation genießt.

Seelenarzt ist der Antiquar, weil seine universellen Buchbestände für so viele unterschiedliche Kunden ein Reich unerfüllter Träume darstellen - der Handwerker, der Ingenieur werden wollte, der Chirurg, der lieber Priester geworden wäre, der Kaufmann, der sich als Architekt sieht, der Lehrer, der eigentlich hatte Universitätsprofessor werden wollen. Sie alle bauen sich aus unseren Beständen ihren Lebensersatz auf, der Gang zum Antiquar ist auch der magische Weg in jenes Leben, das sie eigentlich hatten führen wollen...

Zum Drogendealer  wird der Antiquar, wenn er den Kunden mit Erfolg angefixt hat. Wir brauchen dazu keinen Magister Tinius - jeder geistig interessierte Mensch, ja jeder Esel kann mit geschickten Techniken zum Büchersammler eines Spezialgebiets gemacht werden. Hier fordere ich seit Monaten die Überlegung und Planung neuer Absatztechniken, deshalb auch meine maßlose Enttäuschung über den in meinen Augen ganz törichten Bücher-Michel von ZVAB-Schwaneberger. Denn der "Katalog" sollte das Herzstück jeder Sammelleidenschaft sein.

Nun kommt der wichtigste Satz, der bisher in diesem Blog zu lesen war:

Der Absatz alter Bücher über eine Bücherdatenbank, ein Bücherportal  z e r s t ö r t  die Magie des Antiquars, wir werden durch die Altbuchportale  e n t m a n n t, unserer natürlichen Berufskräfte beraubt.

Die Vereinzelung der Bücher im Portalabsatz - 600 Antiquare bieten, Stückchen für Stückchen, 12 Millionen alter Bücher an - war notwendig, sie stellte eine Übergangsphase dar, die nun beendet ist.

Wir können und müssen jetzt zurückkehren zum vorherigen Stand. Der Weg muß so beschaffen sein, daß wir unsere alten, natürlichen mythischen Berufskräfte wieder gewinnen.

Zwei Faktoren helfen uns dabei. Zum einen ist das der seltsame Zustand, daß Amazon im Alleinbesitz von gut 90 % unserer Internet-Absatzwege ist (vom Sonderfall Ebay abgesehen) und die Kartellbehörde dagegen nicht einschreitet. Warum ist das so wichtig?

Wir werden sehen, daß uns mein Projekt beständig in eine gefährliche Nähe zu verschiedenen Klippen des Wettbewerbsrechts bringt. Während die Kartellbehörde zur Zeit offenbar durch irgendwelche Winkelzüge lahmgelegt ist, kann aber der Richter in einem Wettbewerbsverfahren diese ganz unglaubliche Monopolsituation  f r e i  b e w e r t e n. Um es einfacher zu sagen: Wer einem solchen Monopolzwang ausgesetzt ist wie unser Berufsstand, der darf sich  w e h r e n, dem sind besondere wirtschaftliche Abwehrmaßnahmen gestattet.

Der andere Faktor, auf den wir bauen können, ist die sehr komfortable Internetsituation, die wir zur Zeit genießen. Webspace ist spottbillig, auch sehr gute Seitenmodelle sind preiswert, sogar gratis zu erhalten, die Verbindungen laufen schnell, fast jeder Kunde hat nicht nur Internetzugang, sondern weiß auch damit recht gut umzugehen. Vor zwei, drei Jahren wäre das alles wesentlich teurer und wegen der Überalterung unserer Kunden auch problematisch gewesen.

Mit leisem Kopfschütteln gegenüber manchen Plänen, die uns Wattig in rascher Folge vorlegt, muß ich darauf bestehen, daß wir vor allen ultramodernen Vernetzungsspielchen die Möglichkeiten unserer traditionellen, fast schon altbackenen Darstellung im klassischen Internet, in der einfach strukturierten Webseite, besser nutzen. Ich spreche von der Webseite des einzelnen Antiquars und von der Vernetzung aller Webseiten in einem gigantischen Verbund auf mehreren Ebenen.

Wir sagten: Die Fragmentierung seiner Bestände in der Millionen-Datenbank entmannt den Antiquar, sie beraubt ihn seiner natürlichen mythischen Kräfte und Fähigkeiten. Notabene sprechen wir heute nicht vom Verlust an wirtschaftlicher Macht, nicht davon, daß der Antiquar durch das Datenbankverfahren zum Hampelmann beherrschender Datensysteme wird. Sondern davon, daß Kräfte, die der Absatzförderung zugute kommen könnten und sollten, auf diese Weise geopfert werden.

Mit Hilfe eines geschickt organisierten Verbundsystems, das alle Kollegenwebseiten auf mehreren Ebenen vernetzt, können große Teile der verlorengegangenen mythischen Rolle und Bedeutung des Antiquars zurückgewonnen werden.

Dazu müssen wir eine Reihe von Regeln aufstellen, die dem Antiquar beim Bau einer guten Webseite helfen. Das wird uns in nächster Zeit noch ausführlich beschäftigen, ich bitte Sie an dieser Stelle einfach, sich eine beliebig herausgegriffene Frankfurter Webseite anzusehen

http://www.orbanundstreu.de/index.html

Sie weist zwar eine Vielzahl von Einzelschwächen auf, ist aber in der Gesamtwertung "gut bis sehr gut" und wenn es jedem Kollegen möglich wäre, sich so oder ähnlich im Netz darzustellen, würden fürs erste alle Voraussetzungen für eine sofortige Vernetzung auf mehreren Ebenen erfüllt sein. Bei dieser Gelegenheit: Kompliment an die Frankfurter Kollegen!

In einer tieferen Anstrengung wird es dann darauf ankommen, die  d i r e k t e  Beziehung zwischen Antiquar und Sammler durch technische Mittel zu verstärken. Der Kunde soll sich bei einer Reihe von Kollegen  z u h a u s e  fühlen, regelmäßig  v o r b e i s c h a u e n  und  Vertrauen gewinnen. Das wird nicht gehen ohne

- Sprechstunden im Netz / am Telefon

zu bestimmten Zeiten, in denen der Antiquar Auskunft gibt, Wünsche bearbeitet, einfach nur jene wenigen Sätze wechselt, die dem Kunden das Gefühl vermitteln, daß da ein  M e n s c h  zwischen den Bücherregalen sitzt, mit dem man reden, auf den man zählen kann.

In Klammern müssen wir uns immer wieder fragen, ob denn meine These, daß die meisten Kunden nicht einzelne Titel suchen, sondern "ungefähr" Bücher einer bestimmten Art aus bestimmten Sachbereichen erwerben wollen, stimmt. Ich bin davon überzeugt, aber das muß diskutiert weden.

Für die großen Bücherdatenbanken gibt es keine schlimmere Gefahr als die, daß sich der einzelne Antiquar wieder seiner natürlichen Kräfte besinnt, daß er selbständig dem Kunden gegenübertritt und zum Stammantiquar, zum guten Bekannten einer Reihe von Büchersammlern wird. Für die Großportale ist unser Webseitenverbund der absolute Alptraum.

Ich gehe hier gleich noch einen Schritt weiter. Auf der Grenze des Wettbewerbsrechts wandelnd können wir doch versuchen, als Abwehrmaßnahme gegen die Monopolsituation eine  A b s p r a c h e  hinzubekommen der Art, daß die Antiquare des Webseitenverbunds ihre Titel bei Direktbestellung 10 % billiger liefern. Das wäre die eine Maßnahme, eine andere könnte sein, daß wir einen Teil unserer Titel n u r  über den Webseitenverbund liefern...

Ich wünsche Ihnen noch einen guten Sonntag, Ihr

Peter Mulzer in Freiburg

Das Bild verdanken wir gutenberg.spiegel.de . Es zeigt eine Schlange, die am Amazonas zuhause ist, und den deutschen Antiquar  Mustermann