Freitag, 21. August 2009

Wie werde ich Buchantiquar? 2.Kapitel




4.
Die ersten selbständigen Ankäufe gehören zum Schwierigsten, was der Antiquar zu leisten hat. Zwar kennt er den Wert der Bücher bisher nur in schwachen Umrissen, trotzdem aber soll er selbstsicher und überzeugend auftreten, die Bücher rotiniert durchsehen, eine Ankaufssumme festsetzen und den Zuschlag erhalten.

Hier muß der Berufsanfänger lernen, eine gewisse Schauspielerei oder richtiger Hochstapelei auszuführen - eine Gottesgabe, die er auch später, nach vielen Berufsjahren, immer wieder einmal beherrschen und anwenden muß. Einige formale Regeln helfen dabei:

Gehen Sie ohne Scheu vor Staub ans Bücherregal oder an den Bücherstapel in der Ecke des Dachbodens, nehmen Sie die Bücher schnell und ohne Zögern zur Hand, zeigen Sie bereits manuell, daß Ihnen Bücher vertraut sind. Bilden Sie einige getrennte Stapel: Buchgemeinschaftsausgaben, Romane, Bildbände, schlecht erhaltene Bücher, Standard-Klassikerausgaben in Fraktur als negative Posten; Heimatliteratur, gute Fachtitel beliebter Sammelgebiete als positive. Begründen Sie diese Stapelbildung dem Kunden gegenüber. Sie gilt zwar nicht für alle Fälle, taugt aber ganz gut für den Anfang.

Wenn Sie über ein hinlängliches Allgemeinwissen verfügen und, noch nützlicher, zu bestimmten Titeln anekdotische Bemerkungen machen können, dann tun Sie Ihrem Redefluß keinen Zwang an. Nichts hat der Kunde lieber als einen klug und unterhaltend plaudernden Antiquar; schweigsame Ankäufer sind nicht beliebt. Wir haben es aus den bekannten Gründen der Alterspyramide ja oft mit älteren Frauen zu tun, die gern zuhören und auch ein wenig Flirt zu schätzen wissen.

Der Wertansatz ist nicht so entscheidend als Ihr Auftreten. In der ersten Zeit können Sie folgendes Schema anwenden: Titel, von denen Sie vermuten, daß sie wenig wert sind, lassen Sie beim Wertansatz außen vor. Dazu zählen vor allem Romane, Buchgemeinschaftsausgaben, Bildbände und Taschenbücher. Später dann werden Sie lernen, daß es in allen diesen Negativgruppen viele positive Ausnahmen gibt, die durchaus ihren Wert haben.

Überschätzen Sie die Bedeutung der guten Erhaltung nicht. In den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat sich vor allem unter Laden- und Messeantiquaren ein Kult der neuwertigen Erhaltung alter Bücher entwickelt, den man nicht immer mitzumachen braucht. Ladenantiquariate, die wie Neubuchhandlungen aussehen, wirken abstoßend. Die Kunden wollen das in aller Regel nicht. Beugen Sie sich also nicht dem Terror der zahlenmäßig wenigen, bei Reklamationen und auch sonst aber leider lautstark sich vordrängenden "Ladenfrisch"-Kunden. Wenn es sich vom Thema her um bessere Titel handelt, dann nehmen Sie auch deutlich benutzte Bücher mit. Nur Anmerkungen mit Filzstift und schmuddelige Griffkanten (Schnitt) lassen Sie immer liegen.

Die von Ihnen rein gefühlsmäßig bzw. nach Verdacht als "besser" eingeschätzten Titel bewerten Sie mit 3 Euro - alle anderen berechnen Sie nicht. Bei typischen Ankäufen kommen Sie mit dieser Methode in der ersten Zeit zu Beträgen zwischen 20 und 200 Euro. Runden Sie mutig auf, bieten Sie nur glatte 5-Euro-Stufen an. Hören Sie sich bereitwillig an, was der Kunde Ihnen über angebliche Ankaufspreise oder gar - vom Antiquar sehr gefürchtet - über von ihm ermittelte ZVAB-Verkaufswerte erzählt, berücksichtigen Sie in der ersten Zeit aber die Kundeninformationen nicht. Später werden Sie abschätzen können, wann sie richtig sind und wann falsch, das hält sich in etwa die Waage. Neben richtigen und nützlichen Kundenhinweisen stehen ganz verkehrte und irreführende. Verstopfen Sie die Ohren davor wie Odysseus beim Passieren der Sirenen.

Zahlen Sie sofort und in bar. Nehmen Sie alle Bücher sofort mit. Zeitaufschub zwischen Angebot und Abholung ist die Mutter vieler Irrtümer und Zerwürfnisse im Ankauf, denn Verwandte und Besucher könnten zielsicher gute Stücke, auf die Sie geboten hatten, in der Zwischenzeit mitgehen heißen. Machen Sie in der ersten Zeit grundsätzlich keine Nur-Angebote, reden Sie sich darauf hinaus, daß der Berufsverband es "nicht zuläßt". Sie bieten lediglich an, eine Summe vor Ort anzubieten, sofort zu bezahlen und im gleichen Zug die Bücher abzuholen. Will der Kunde Bedenkzeit, sollen Sie wiederkommen, dann lehnen Sie das höflich, aber entschieden ab. Auf der Schiene der Angbote, Bedenkzeiten und Verhandlungen kann sich nur der gestandene Kollege sicher bewegen, lassen Sie fürs erste die Hände vom Krieg der Angebote.


5.
Nun haben Sie sich also, mehr oder minder hochstapelnd, einen ansehnlichen ersten Bestand an Titeln erworben. Mit einem eingesetzten Anfangskapital von 1000 Euro für die Bücher und rd. 300 Euro für Inserate verfügen Sie nach etwa 20 Besuchen, worunter 10 ordentliche kleinere Ankäufe, über etwa 500-1000 undurchsuchte Titel jeder nur denkbaren Art. Stellen Sie den Bücherschatz sorgfältig in Reihen auf und beginnen Sie mit dem, was gleich nach dem Jagderlebnis des Ankaufs die zweitwichtigste Übung im Antiquariatsleben ist - die Wertbestimmung.

Es gibt in Ihrer ersten Berufszeit und noch lang darüber hinaus keine andere Preisreferenz als das ZVAB. Über die Gründe wird zu sprechen sein. Meiden Sie insbesondere Metasuchmaschinen. Sie können und sollen trotz seiner verschiedenen formalen Mängeln zunächst nur mit dem ZVAB arbeiten.

Sehen Sie grundsätzlich jeden neu erworbenen Titel dort nach. Die Technik der geschickten Stichwortabfrage wir Ihnen bald geläufig sein - häufige Worte führen mühsamer zum Ziel als seltene. Setzen Sie nicht "Müller" ein oder "Handbuch", sondern "Caprivi" und "gründliches", wenn Sie das "Gründliche(s) Handbuch" der Herren "Müller und Caprivi" nachschlagen wollen. - Daß die Preisspanne eines Buchs, trotz aller gegenteiligen, oft etwas beckmesserischen Klagen der Antiquare, in aller Regel sehr wohl gut begründbar und erkennbar ist, wird Ihnen schnell klar. Neben Zustandsunterschieden sind auch Einbandarten und Auflagen mit preisbestimmend.

In fast jedem Fall wird ein Durchschnittspreis schnell erkennbar. Diesen notieren Sie nun als reine Euroziffer, ohne jeden Zusatz, auf einem schmalen leeren Papierstreifen, den Sie ins Buch einlegen, aber nicht vorn vor den Titel, sondern irgendwo innen, damit er vom Buchblock schön festgehalten wird. Diese Einlagezettel stellen Sie her, indem Sie ein A4-Blatt quer legen und etwa 8 senkrechte Streifen schneiden, je 3-4 Blatt übereinander auf einmal.

Lesen Sie sich bei der Feststellung des mittleren ZVAB-Werts der Bücher nicht fest. Die Gefahr dazu ist groß, widerstehen Sie aber mannhaft. Sie machen hier die erste Bekanntschaft mit dem Fluch unseres Gewerbes - dem Leseverbot, der Unmöglichkeit, jene oft hochinteressanten Titel, die durch unsere Hände gehen, zu lesen.

Wenn Sie feststellen, daß der ZVAB-Wert eines Buchs über 10 Euro liegt, dann kopieren Sie eine Titelaufnahme, die Ihnen korrekt erscheint, mit der zuvor ja schon installierten Kopierfunktion Ihres Firefox *sofort* nach Wordpad. Wordpad ist das ganz schlichte, abgespeckte Schreibprogramm, bei Windows XP etwas versteckt unter den Zubehörprogrammen (Start-Programme-Zubehör) enthalten. Ziehen Sie das Wordpad-Symbol, ein hübsches Stenoblöckchen mit quergelegtem Bleistift, ein für alle Mal in die untere Bildleiste neben "Start", sodaß Sie es immer schnell aufrufen können. Nach Wordpad kopierte Texte verlieren weitgehend ihre Formatierung - ein Gottesgeschenk! Später gehen wir näher auf diesen wichtigen Punkt ein.

Nun beginnt die erste Einübung in Systematik und Exaktheit, zwei unerläßliche Begabungen, die der Antiquar haben muß. Macht Ihnen persönlich das schon Probleme, dann haben Sie sich den falschen Beruf ausgesucht. Die Reihenfolge der Titelaufnahmen, die Sie nun nach Wortdpad einkopieren, muß nämlich die gleiche sein wie die der Titel in Ihrem Arbeitsregal, nichts darf durcheinandergeraten. Zugleich handelt es sich nur um jene Titel, bei denen Sie einen Durchschnittswert über 10 Euro ermittelt haben.

Ich liefere Ihnen hier ganz bewußt keine vereinfachende Schemazeichnung zu diesem Sachverhalt. Sie müssen auch so verstehen, was wir hier machen: Titel mit ZVAB-Wert über 10 Euro werden gesondert gestellt und in identischer Reihenfolge gemäß unserer Bearbeitung auf unser Wordpad-Feld vom ZVAB her überkopiert.

Sie haben in dem Wordpad-Feld also z.B. stehen:

Russell Charles Taze
Dein Königreich komme - - Schriftstudien Band 3 der Bibel- und Traktat Gesellschaft
[nach diesem Titel suchen]
Magdeburg, Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher, 1926
366 Seiten , Olwd., 8°, Einband etwas berieben, vorderer Deckel mit kl.Mausbiss, leicht stockfleckig, ansonst guter und sauberer Zustand; Schriftstudien Band 3 der Bibel- und Traktat Gesellschaft; 2. Aufl.

Drittes Werk aus der Reihe Schriftstudien. Russell ist der Begründer der "Zeugen Jehovas".


[Licht-/Luft-/Sonnen-Therapie. -]
Ungewitter, Richard.
Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Beleuchtung.
[nach diesem Titel suchen]
Stuttgart, Selbstverlag, 1920.
Gr.8°. 104 S. mit 60 Abbild. Orig.-Halbleinwand mit goldgepr. Rücken- u. Deckeltitel u. mont. Titelbild; Einband etwas berieben u. lichtgebleicht.

Selten. - Richard Ungewitter (1868-1958) war Lebensreformer, Vegetarier und Anhänger der Nacktkultur (vgl. Rothschuh S.129 ff.). - Die einzelnen Abschnitte behandeln: Wie der Mensch nackt wurde, wie wir zur heutigen Bekleidung gekommen sind, die Nachteile unserer Bekleidung, die gesundheitlichen Vorteile der Nacktheit, Lebensgenuß und Nacktheit, ohne Nacktheit keine wahre Moral, Nacktheit und Kunst, usw. - Die Abbildungen zeigen künstlerische Akt-Photographien. - Vorsatzbl. erneuert, Name auf Titels.; gut erhaltenes Exemplar.

[Schlagwörter: Naturheilverfahren alt, 2008/I; Kleidung; Licht-/Luft-/Sonnen-Therapie; Physiotherapie/Hydrotherapie/Wasserheilkunde; zvab-Heilkunde-Licht-/Luft-/Sonnentherapie]

Nun entfernen Sie alle Zusätze, die Ihnen unnötig erscheinen. Wir werden in einem späteren Kapitel näher auf die Einzelheiten eingehen, heute sollen Sie lediglich Ihren gesunden Menschenverstand einsetzen. Folgende Texte könnten dann z.B. bleiben:

Russell Charles Taze
Dein Königreich komme - - Schriftstudien Band 3 der Bibel- und Traktat Gesellschaft
Magdeburg, Internationale Vereinigung Ernster Bibelforscher, 1926
366 Seiten , Olwd., 8°,
Schriftstudien Band 3 der Bibel- und Traktat Gesellschaft; 2. Aufl.

Russell ist der Begründer der "Zeugen Jehovas".


[Licht-/Luft-/Sonnen-Therapie. -]
Ungewitter, Richard.
Die Nacktheit in entwicklungsgeschichtlicher, gesundheitlicher, moralischer und künstlerischer Beleuchtung.
Stuttgart, Selbstverlag, 1920.
Gr.8°. 104 S. mit 60 Abbild.
Selten. - Richard Ungewitter (1868-1958) war Lebensreformer, Vegetarier und Anhänger der Nacktkultur (vgl. Rothschuh S.129 ff.). - Die einzelnen Abschnitte behandeln: Wie der Mensch nackt wurde, wie wir zur heutigen Bekleidung gekommen sind, die Nachteile unserer Bekleidung, die gesundheitlichen Vorteile der Nacktheit, Lebensgenuß und Nacktheit, ohne Nacktheit keine wahre Moral, Nacktheit und Kunst, usw. - Die Abbildungen zeigen künstlerische Akt-Photographien.
[Schlagwörter: Naturheilverfahren alt, 2008/I; Kleidung; Licht-/Luft-/Sonnen-Therapie; Physiotherapie/Hydrotherapie/Wasserheilkunde; zvab-Heilkunde-Licht-/Luft-/Sonnentherapie]

Sie haben also alles entfernt, was nur auf ein bestimmtes Exemplar bezüglich sein kann, ferner einige doppelt angeführte Begriffe und das blödsinnige "nach diesem Titel suchen".

Dankbar übernehmen Sie die zahlreichen guten Stichworte beim Ungewitter-Eintrag und ebendort die nützliche Inhaltsangabe. - Titelaufnahmen genießen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, grundsätzlich keinen Urheberrechtsschutz. Was eine Sache des Anstands und der Großzügigkeit sein sollte, nämlich die ohnehin schon erstellten Titeleien den Kollegen zur Mitbenutzung zur Verfügung zu stellen, wird leider mit schöner Regelmäßigkeit zum Streitpunkt unter hämischen, unsozialen Kollegen. Lassen Sie sich nicht beirren: Es muß endlich zum Verhaltenskodex des Antiquars gehören, auch etwas ausführlichere Titelaufnahmen zur Mehrbenutzung bereitzustellen. Wie auch immer, juristisch sind Sie beim Eigenverwenden kopierter Fremdtitelaufnahmen auf der sicheren Seite. Kollegialität ist angesagt!


Wir verfügen nun über zwei Titelaufnahmen, die Sie mit den Eigenschaften Ihres eigenen Buchs noch ergänzen müssen (Erhaltungszustand, Namenseinträge, andere Auflage, andere Seitenzahl usw.) und die Sie dann universell einsetzen können:

In der Struktur nahezu unverändert haben Sie damit den Aufnahmetext für das Ebay-Angebot - und nach Eintrag in Ihre CSV-Tabelle verfügen Sie über eine ordentliche Grundlage zur Eingabe in alle Bücherdatenbanken.

Die CSV-Tabelle rufen Sie aus Ihrem installierten Open-Office-Programm auf. Ich breche an dieser Stelle ganz bewußt ab, weil der Umgang mit CSV einen der schmählich vernachlässigten Berufskerne im Antiquariat darstellt. Erstaunlich viele Kollegen beherrschen diese grundlegende EDV-Technik nicht und hängen deshalb hilf- und würdelos am Tropf irgendwelcher Bucheingabe-Hilfsprogramme. Durch Beherrschen der CSV-Technik wird der Antiquar erst zum Herr seiner selbst, wird er souverän im Umgang mit den Datenbanken, die er zum Absatz so notwendig hat.

Ähnlich schwierig ist der Umgang mit Turbolister und mit Resultado, wenn es um den Eintrag der Titel in Ebay-Versteigerungen geht. Aber wie bei der CSV-Technik gilt auch hier: Einmal gelernt, sitzt es und wird nie mehr vergessen. Es ist wie mit dem Autofahren.


Ich möchte, daß Sie an dieser Stelle des Kurses ein Gefühl dafür bekommen, daß die Berufsarbeit des Antiquars viel zu tun hat mit Systematik, mit formaler Zuverlässigkeit, mit Registratur und "Ordnung" im weitesten Sinn. Wenn Sie erkennen, daß Ihnen das nicht liegt und Sie diesen Beruf doch lieber nicht wählen sollten, dann ist schon viel gewonnen.

In unserem Beruf wird viel zu viel von Kultur und Abendland geschwafelt. Die nüchterne Alltagswelt des Antiquars kommt meist zu kurz. Das soll uns nicht passieren.

Das nächste Kapitel führt uns in die Welt der Sammler und der Bibliotheken.