Donnerstag, 16. Juli 2009

NINIVE kontra Alteskrokodil





Heute hat uns Herr Weinbrenner sein neues Portal "Ninive" vorgestellt. Kompliment!
Das trifft sich gut - ich baue auch eines. Ich bitte um Nachsicht dafür, wenn meine Planungen gedanklich nicht so gut untermauert sind und ich mich anders als Kollege Weinbrenner deshalb hier kurz fasse.


alteskrokodil
Portal für Sammler alter Bücher und Buchantiquare
im deutschen Sprachgebiet



Wo stehen wir?

A.
Was wir n i c h t oder jedenfalls doch nicht vordringlich zu erledigen haben

1.
Die technischen Möglichkeiten im Bereich der Bucherfassung und der Darstellung alter Bücher lassen sich vorderhand nicht verbessern. Man muß w+h oder das abebooks-Titelaufnahmesystem nicht lieben, andere Systeme dieser Art noch weniger, tatsächlich aber ist mit den am Markt vorhandenen und recht preiswert oder sogar gratis zu erwerbenden Hilfsmitteln für jedermann, der Titel aufnehmen und verwalten will, ein vernünftiges Arbeiten möglich. Angesichts der riesigen Probleme, die das Antiquariat an anderen Stellen gefährden, vor allem im Absatz, erscheint es mir nicht sinnvoll, hier Nachbesserungen anzustreben.

2.
Anders sieht es mit einer Verbesserung der Webseitengestaltung aus, wenn wir uns Gedanken über Webseiten und Webkataloge des einzelnen Buchantiquars machen. Hier liegt vieles im Argen. Andererseits aber müssen wir mit dem ausgeprägten Hang des Antiquars zum Individualismus rechnen. Deshalb ist es eine Sache mit Nücken und Ösen, dem Kollegen Hilfestellungen oder gar Standardisierungen zur Gestaltung seiner Webseite zu vermitteln. Auch deshalb, weil der Werbewert individueller Kollegenseiten nicht so hoch zu sein pflegt, als daß man als Antiquar nicht getrost ein wenig ins Provisorische hinein gestalten könnte (mit anderen Worten - meistens guckt ja doch keiner hin).

3.
Dies gilt auch für die Form und Funktionalität unserer großen allgemeinen Verkaufsportale. Mein Test vor einigen Tagen, der ja nur einen Teilaspekt der Funktionalität umfaßte, ist mehr beachtet worden, als ich erwartet hatte. Trotzdem halte ich ein weiteres Nachdenken über die Sonderfrage "Verkaufsportalverbesserung" nicht für vordringlich. Der auch vom Kollegen RFMeyer und im Zusammenhang mit dem (an sich sehr reizvollen) "Daumennagelkinobuch" zum Durchblättern bei Flickr angesprochene Aspekt einer besseren Visualisierung des Buchs, übrigens auch die einzige echte Innovation bei Prolibri, scheitert, was oft vergessen wird, am notwendigen Zeitaufwand für die Scan-Erstellung. Im Bereich des teuren Buchs allerdings muß weitaus mehr gescannt werden. Wie auch immer - Abebooks und ZVAB, die wichtigen Portale für den kleineren Antiquar, arbeiten technisch und ästhetisch gut bis befriedigend.

4.
Die bibliographische Erschließung unserer alten Bücher wird durch die Google-Digitalisierung, durch Wordcat, durch KVK/Digibib und andere Hilfsmittel, die jenseits unserer Einwirkungsmöglichkeit liegen, immer weiter vorangetrieben. Was vor einem Jahrzehnt noch ein anzustrebendes Ziel gewesen wäre, die Bibliographie und Inhaltserschließung der älteren Titel zu erleichtern, das ist heute schon auf mittlere Zeit hin unnötig.


B.
Was sofort und unbedingt zu leisten ist

5.
Durch die Digitalisierung der alten Bücher, die Zeitgrenze wird sich in der Praxis bis gegen 1930 voranschieben, brechen die meisten sachlichen Nutzer weg. Das gilt nicht nur für den Wissenschaftler, sondern auch für weite Bereiche der berufspraktischen Nutzung, wir müssen da auch an Bibliotheken und Archive denken. Denn es gilt zwar einerseits, daß die Fachbibliothek das "körperliche" Exemplar haben muß aus archivalischen Gesichtspunkten - die Kontakte, die ich zu Freiburger Fachbibliotheken unterhalte, zeigen mir aber ganz klar, daß die Vorteile der Nutzung eines digitalisierten Exemplars so schwer wiegen (blitzschnelles Lesen am Apparat, elegantes "copy and paste", sekundenschnelles, gezieltes Teilausdrucken, elegantes Zitieren, perfektes Totalindizieren des Wortlauts usw.), daß mit ganz wenigen Ausnahmen auch der Institutsbereich für das Antiquariat in allernächster Zukunft als Kunde entfallen wird. Zweifel daran sind nicht möglich.

6.
Der allgemein, querbeet über Sachgebiete hinweg das "seltene" oder "interessante" alte Buch sammelnde Antiquariatskunde war schon immer ein rara avis. Bei näherem Zusehen handelt es sich dann eben doch um den Liebhaber bestimmter Sachgebiete. Dies ist die eine wichtige Regel, die wir auch bisher als Antiquare schon beachtet hatten. - Nicht ins Blickfeld genommen haben wir aber etwas anderes, und daran tragen die Verfechter, die Anbeter und Hohepriester der Bibliophilie ein gerüttelt Maß an Schuld: Das klassische Büchersammeln bezieht sich b i s h e r mit wenigen Ausnahmen auf das seltene, das teure, das gesuchte Buch. Eine Wertuntergrenze läßt sich generell nicht angeben. Kinderbuchsammler halten auch kleine Titel zu 15 Euro schon des Erwerbens wert, die Liebhaber alter Reiseliteratur beginnen meist erst ab 80-100 Euro, um zwei Beispiele herauszugreifen. Die Wertuntergrenze beim Büchersammeln ist bisher zu wenig überdacht worden.

7.
Um das Antiquariat wieder auf die Beine zu bekommen, um ihm neue Käuferschichten zuzuführen, um einen Ausgleich für die Digitalisierungsverluste zu schaffen, müssen wir eines leisten:

Der Sachgebietsammler soll angeleitet, soll verführt werden dazu, nach unten hin *alle* Titel seines Sammelgebiets zu kaufen.

Wir müssen also für jedes thematische Sammelgebiet Anreize dafür schaffen, daß das billige, das einfache alte Buch geschätzt, als sammelwürdig und als besitzenswwert angesehen wird. Wir haben also die Aufgabe,

das Sammelgebiet des alten Buchs im unteren und mittleren Wertbereich neu zu postulieren, es einzuführen, es "modern" zu machen.

8.
Mit allgemeinen Redensarten ist da gar nichts zu wollen, mit Leseförderungsmaßnahmen der mehr oder minder tollpatschigen Art auch nicht. Jeder andere Berufsstand würde diese Aufgabe, die nichts anderes bezweckt als die Gewinnung neuer Käuferschichten, gemeinsam anpacken. Das ist nicht möglich. Man muß das verstehen - die von mir sine ira et studio als "edel" bezeichnete Oberschicht unseres Gewerbes lebt von der Jagd auf die teuren Titel. Ihnen könnte von einer Erweiterung des Sammelgebietes "altes Buch" nach unten hin höchstes Schaden entstehen. 950 von 1000 Buchantiquaren aber würde davon davon profitieren.

9.
Nun muß ich dringend davor warnen, der Aufgabe mit jenem allgemeinen kulturpolitischen Geschwafel zu Leibe rücken zu wollen, das unter uns Antiquaren zur lingua franca geworden ist immer dann, wenn uns eigentlich - nichts einfällt. Es mag kurios klingen, aber angesichts der gestellten Aufgabe ist der im Vorteil, der ausgedehnte Erfahrungen im klassischen Briefmarkensammeln hat. Wir sprechen da natürlich nicht von jenem Sammeln postfrischer Bilderchen, die die Post liefert, um alte Greise und Kinder auszunehmen - sondern von der passionierten Jagd nach Briefmarken auf Dachböden und in Kellern, vom nächtelangen Katalogisieren, kurzum vom Markensammeln als Leidenschaft. Nur wer das kennt (und um die Regelwerke weiß, die der zuliefernde Berufsstand seit anderzalb Jahrhunderten entwickelt hat), kann die Brücke vom Briefmarkensammeln zum Altbuchsammeln schlagen.

10.
Da Bücher nicht Briefmarken sind, muß jede Regel, jeder Grundsatz daraufhin abgeklopft werden, wo Gemeinsamkeiten herzustellen sind oder wo energisch abgewandelt werden muß. Immerhin darf ich, auf den Stockzähnen grinsend, gleich eine Gemeinsamkeit feststellen - der Büchersammler liest seine Erwerbungen (auch) nicht. Er hortet sie, er streichelt sie, er liebt sie. Von daher sollte er sich mit dem klassischen Markensammler gut verstehen. - Es gibt absolut keine Bezüge zum Kunstsammeln, auch hier übrigens eine Konfliktmöglichkeit mit den Edelantiquaren, die streckenweise in der Atmosphäre des Kunsthandels mehr leben, psychologisch gesehen, als im Buchantiquariat. Mir scheint, daß das Buchantiquariat seine neuen Impulse tatsächlich aus dem Bereich des - übrigens rapide im Rückgang befindlichen - Briefmarkensammelns erhalten kann.


C.
Und nun konkret

11.
Das Internet stellt uns besonders günstige Möglichkeiten zur Verfügung. Wir können jedes Sammelgebiet, soweit es sich sachlich abgrenzen läßt, in einer "eigenen Seite" ins Netz bringen. Das - übrigens höchst reizvolle - Sammelgebiet "ältere Esoterik" muß ich völlig anders herüberbringen als das der "älteren Naturheilkunde", auch wenn sich beide Gebiete überschneiden mögen. Es geht jeweils darum, den "Geist" des Sammelgebiets einzufangen. Es geht darum, Bibliographien bereitszustellen, soweit das juristisch-urheberrechtlich möglich ist; vor allem aber müssen sehr viele Buch-Scans das Sammelgebiet vorstellen, es schmackhaft machen.

12.
Wenn nun Portal auf Portal für den Sachgebiets-Büchersammler entsteht, ist der nächste Schritt schon vorgezeichnet, ergibt sich sozusagen von selbst. In einer freien Zone, die beliebig groß sein darf, Speicherplatz kostet wenig und Traffic auch nicht viel mehr, bringen die Fachantiquare Links zu ihrer Webseite ein, stellen ihre Listen in Kopie ein, machen sonstwie auf sich aufmerksam (Ladengeschäfte, Messebesuche, Ankaufswunsch).

Aber nicht nur die Fachantiquare - das System bedeutet, daß jeder Kollege, auch der kleinste, seine Bestände ordnet und einbringt nach den neuen Kriterien der entstehenden Sammelgebiete. Man kann die Gliederung unten in einer provisorischen Fassung nachlesen. Ich denke, daß dieser kleine Zwang zur Normierung, zur Vereinheitlichung die Freiheit der Kollegen nicht allzusehr einschränkt. Dieses kleine Stück Unfreiheit ist der Preis für die Schaffung einheitlicher Sammelgebiete im Bereich des unteren und mittleren Antiquariats, für die Erschließung neuer Käuferschichten.

Vorderhand brauchen wir gar nichts anderes. Denn was hülfen uns neue technische Tricks, "Module" und Bildsysteme, wenn wir weiter Monat für Monat - - unsere Kunden verlören?

Wir müssen uns vielmehr durch Schaffung und Propagierung neuer Sammelgebiete und Sammelregeln die neuen Kunden selber schaffen.


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Gustave DORE. 1832-1883: "Jonas exhorte les habitants de Ninive à la pénitence." Gravure.