Samstag, 31. Oktober 2009

Ein Register der retrospektiven Erwerbungsprofile der Bibliotheken im deutschen Sprachgebiet




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Auch Bibliotheken haben ihre Intimbereiche. Zum innersten Kreis der diskret behandelten Verwaltungstechniken gehört eine Frage, die uns Antiquare als Verwalter und Anbieter der alten Bücher brennend interessiert:
In welchem Umfang, nach welchen Voraussetzungen und in welcher Abgrenzung zu Nachbardisziplinen, wann und mit welchem Etat werden fehlende Titel zur retrospektiven Bestandsergänzung von den Büchereien gesucht und gekauft?

Bei persönlicher Nachfrage in den Zimmern der Sachbearbeiter - in kleinen Bibliotheken tuts schon ein Plausch mit der Sekretärin - erfährt man in der Regel bereitwillig Einzelheiten, schließlich würde sich der freundliche und in aller Regel grundgescheite Referent des Fachgebietes genieren, dem Antiquar gegenüber Versteckspiele zu inszenieren. Gespräche in Bibliotheken gehören zu meinen erfreulichsten Erinnerungen.

Ganz anders sieht es aus, wenn man auf schriftlichem Weg oder gar mit der Ankündigung einer Veröffentlichung um Daten zur Erwerbungspolitik im engeren Sinn bittet - gewundene, nebelhafte Drückebergereien sind noch das beste zu erhoffende Ergebnis, meist kommen saugrobe, in ihrer Kürze beleidigende Ablehnungen per Email zurück, auf Briefe in der Regel - garnichts, Schweigen.

Ich beziehe mich hier auf eigene kleine Testserien, die ich vor einigen Jahren unternommen hatte. Heute könnten wir hoffen, daß ein vorsichtig und wohlüberlegt angeleiertes Arbeitsvorhaben dieser Art etwas mehr Erfolg haben wird.

Die Gründe für das Aufrechterhalten eines Sperrbezirks in allen Erwerbungsfragen liegen auf der Hand. An erster Stelle steht dabei eine gewisse S c h a m, wohl hier das Haupthindernis für freie Informationspolitik. Viele Bibliotheken haben, man weiß es, nolens volens ihren Etat zusammenstreichen müssen. Wenn etwa im Bereich von Naturwissenschaft und Medizin internationale Drohnenverlage Zeitschriften- und Serienabonnements mit Jahresansätzen von 20.000 Euro und höher vertreiben - die Arbeiten sind wie zum Hohn oft genug staatlich finanziert worden - , dann bleibt der letzte Posten, an dem noch etwas Geld einzusparen ist, der Erwerb antiquarischer Titel.

Das merkt man nicht so (wer überblickt schon den retrospektiven Bestandsaufbau von außen?), und zur allfälligen Beruhigung einer kulturell interessierten Öffentlichkeit kauft man den einen oder anderen spektakulären Titel, der womöglich zu einer kleinen Pressemeldung führt. Dann schaut schon gar keiner mehr nach, ob die Bibliothek ihrer Pflicht zum retrospektiven Bestandsaufbau in der Breite und Tiefe nachgekommen ist.

Die großen Budgetsummen kann man ja allerorten nachlesen, in der Regel kennen wir also den oft beachtlichen Gesamtetat. Aber wie schäbig es in Einzelbereichen manchmal zugeht, das mag man nicht schwarz auf weiß herausgeben.

Ein weiterer Grund zur Informationsverhehlung besteht in der technischen Schwierigkeit, mit den großen Bücherdatenbanken umzugehen. Man muß, will man es sich einfach machen, im deutschen Sprachbereich zumindest mit zwei Suchmaschinen arbeiten, dem ZVAB und mit bookfinder. Wegen den lächerlichen, völlig unzureichenden und in jeder Hinsicht unbrauchbaren Sacherschließungen in allen Verkaufs-Bücherdatenbanken könnte die erwerbungswillige Bücherei nur so vorgehen, daß sie ihren eigenen Kanon der gesuchten Bücher in den beiden Datenbanken abfragen würde.

Das ist schon von der schieren Zeit her ein Ding der Unmöglichkeit, ganz zu schweigen davon, daß eine retrospektive Gesamtliste in aller Regel nicht erstellt worden sein dürfte, man also, von Ausnahmen abgesehen, aus dem Stegreif gar nicht angeben kann, was einem fehlt. - Diese Misere gibt man aber nicht gern zu, sie enthüllt eine peinliche Lücke im Betriebssystem.

Ein Drittes darf nicht verschwiegen werden. Die Bibliothek fürchtet, nicht ganz zu Unrecht, daß die Antiquare, sind die fehlenden Titel einmal ermittelt, diese für sie erfreuliche Lage ausnutzen und Apothekenpreise berechnen. Soweit ich die Situation überblicke, kann solche Sorge aber nur bei den wirklich seltenen und hochwertigen Zimelien gelten. Nicht zuletzt durch das Internet hat sich für untere und mittlere Titel ein vernünftiges Preisniveau eingependelt, es ist "durchgesagt", was ein nicht gerade exorbitantes Buch ungefähr kosten arf.
Langer Rede kurzer Sinn: Wir dürfen, wenn wir mit Auskunftsersuchen im delikaten Bereich der Erwerbungspolitik an Bibliotheken herantreten, keinen sprudelnden Quell der Auskunftsfreudigkeit erwarten.

Vielleicht gibt es einen Weg, mit dem wir den gordischen Knoten durchtrennen können? Ich denke schon. In den Bibliotheken sitzen bewährte Praktiker, mancher Sachbearbeiter würde mit links ein exzellentes Fachantiquariat betreiben können. Aus der Tagespraxis heraus können wir Antiquare den erwerbenden Bibliotheken folgendes Modell anbieten:

Der Antiquar stellt eigenständig fest, welche Titel der Bücherei fehlen. Dazu braucht er natürlich ein sehr genaues Erwerbungsprofil, er sollte nicht mit den ausführlichen, aber vielfach veralteten oder real stillgelegten Merkblättern des IuD-Systems oder gar der SdD-Unternehmung abgespeist werden. Sagen wir es deutlich -

Wenn der Antiquar seine eigene Zeit, die er auch nicht gestohlen hat, zu aktiven Recherchen im Interesse einer Bibliothek anwendet, dann ist es das Mindeste, daß diese Bibliothek ihn mit *genauen* Erwerbungsprofilen versorgt.

Solang die Bibliothek diese Forderung der Antiquare nicht erfüllt, kann sie von keinem Kollegen erwarten, daß er stundenlang seine Angebote mit ihren Beständen abgleicht.

Dagegen verstehen wir gut und nehmen es hin, wenn der Fachreferent uns weder mit genauen Etatzahlen für seinen Ankauf versorgt noch gar Regeln übermittelt, was denn seine Kauflust steigern könnte. Wir müssen dem Referenten bzw. der Erwerbungsstelle also die volle Freiheit - auch die Informationsfreiheit - belassen, dürfen von ihnen also nur die notwendigsten Rahmendaten erbitten.

Wir Antiquare könnten das rein theoretisch auch durch Serienabfragen etwa mit dem KVK leisten. Aus einer Reihe von Gründen, die darzustellen hier der Raum fehlt, ist es aber unumgänglich, daß mit

*Einzelabfrage und *Einzelangebot, bezogen auf jeweils nur eine bestimmte Bibliothek,

gearbeitet wird.

Die Bibliothek übermittelt uns neben ihrem möglichst genauen retrospektiven Erwerbungsprofil auch die Zugangsdaten der für sie jeweils vollständigsten Datenbank. Das sind keineswegs immer die großen überregionalen Sammelkataloge.

In einer sehr wertvollen Zusatzrubrik sollte uns die Bibliothek Besonderheiten ihres Bestands, von der Erwerbung derzeit ausgeschlossene Gebiete usw. mitteilen. Sonst sind Irrwege und Alpträume für den Antiquar nicht zu vermeiden. Wenn z.B. Tübingen, ein aus dem Gedächtnis herbeigezogenes Beispiel, beim Sammelgebiet Theologie die volkstümliche Theologie, Volksfrömmigkeit also, ausschließt, dann muß der Antiquar genau wissen, was darunter fallen soll und was nicht, ehe er freudestrahlend hunderte alter Andachts- und Gebetbücher anbietet und dann nur Absagen erhält. Oder, um auf die Besonderheiten zu kommen, ich besitze etwa 1000 deutschsprachige Titel mit elsässischer Provenienz, die in der Deutschen Bibliothek fehlen, oft in ganz Deutschland überhaupt, die sie in Leipzig aber - entgegen ihrem Sammelauftrag - nicht zu erwerben wünschen. Solche Besonderheiten und Einschränkungen zu erfahren ist sehr wichtig, damit sich der Kollege nicht umsonst abzappelt.

Die Gegenleistung des Antiquars für die Auskunftswilligkeit der Bibliothek muß darin bestehen, daß er seine Angebote mehr oder minder exklusiv an die Bibliothek richtet. Man kann keinem Sachbearbeiter zumuten, er solle - in der Regel sehr zeitaufwendige - Bestellungen ausfertigen, die sich dann zur Hälfte als schon verkauft erweisen. Der Bibliothekar wird verstehen, wenn der Antiquar, wiederum im Gegenzug, eine deadline für die Bearbeitung seiner Angebote festschreibt.

Fazit: Ich halte es für sinnvoll, Bibliotheken, insbesondere auch Fachbüchereien jeder Art, Archive und Museen um Erwerbungsprofile und Hinweise zur jetzt oder später bestehenden Ankaufswilligkeit zu ersuchen. Das macht man heute mit Email-Anfragen. Die dabei dann üblichen Spam- und anderen Untergangsszenarien lohnt es sich in Kauf zu nehmen, da die Portobelastung sonst mehrere tausend Euro betragen würde. Auch kann die Abfrage nur nach und nach geschehen.

Ich sehe folgende Bereiche:

1.
Die großen Bibliotheken, Landes- und Universitätsbibliotheken. Hier gilt es, die vielen kleinen Sondererwerbungsfelder der komplizierten Einrichtungen, die oft Labyrinthen gleichen, sozusagen herauszukitzeln. Ob das gelingt, muß sich zeigen.

2.
Die Stadt- und Gemeindebüchereien. Ein von uns in der Regel sträflich vernachlässigtes Feld. Erstaunlich viele auch kleinere Büchereien haben lokal bedingte Erwerbungswünsche, die weit über den "Heimat"-Begriff hinausgehen.

3.
Universitätsinstitute, auch solche ohne gesondert ausgewiesene Bibliothek. Hier wäre zu überlegen, ob nicht die vorhandenen Hochschulverzeichnisse, ausgezeichnete Instrumentarien, fürs erste ausreichen.

4.
Fachbibliotheken, Firmen- und Behördenbibliotheken außerhalb der Universitäten. Ein ganz wichtiger Sektor, der von den Antiquaren leider meist als zu sekretierendes Kassenschrankwissen behandelt wird. Hier ist Transparenz zu schaffen.

5.
Museen und Archive. Ein weites, gerade bei retrospektiven Angeboten sehr lohnendes Feld. Hier ist wichtig zu erfragen, inwieweit die EDV-Aufnahme der Buch-Bestände durchgeführt worden ist.

Weitere interessante Fragen schließen sich an, etwa die Bedienung des Zeitschriftenbereichs - die Zeitschriftendatenbank ist eines der bestfunktionierendsten Instrumente des Bibliothekswesens, ihre Nutzung durch die Bibliotheken bei der Erwerbung aber geradezu schauerlich desorganisiert, inkonsequent und für den anbietenden Antiquar beleidigend, exempla docent.

Das derart entstehende Verzeichnis muß, das ist überhaupt die erste Voraussetzung dafür, daß wir von den Bibliotheken Auskünfte erhalten, für jedermann zugänglich sofort nach Erhalt der jeweiligen Daten ins Netz gestellt werden, gratis und werbefrei.



Für die Nutzungsmöglichkeit des cartoons danken wir gliderrider.com.