Mittwoch, 26. August 2009

Von Mäusen und Antiquaren oder Bindings Opfergang und die Sacherschließung








Vorbemerkung, notwendige: Eben finde ich, leider sehr verborgen, einen ganz aktuellen Text des Kollegen Plocher, den ich Ihnen als (ungemein erheiternde) Pflichtlektüre ans Herz legen möchte:

http://meyerbuch.wordpress.com/2009/08/26/wer-zu-spat-kommt%E2%80%A6-folge-3/#comments

Ende der Vorbemerkung



http://owplocher.blogspot.com/
vom 25.8.2009

Kollege Plocher führt uns eine Erscheinung vor Augen, die wohl jeder Antiquar schon mit einigem Erstaunen im eigenen Geschäftsbetrieb bemerkt hat (die ein anderer aber so poetisch nicht hätte schildern können): Zufällig, versehentlich beigegebene, hastig mit eingepackte, irrtümlich versandte Titel werden vom verdutzten Kunden oft gern behalten, aufrichtig verdankt und es gibt vergnügte Leser, die ernsthaft fragen nach einer Zusatzrechnung für den unverlangten Irrläufer.

Wenn wir auch hoffen wollen, daß Bindings Opfergang nicht systematisch beigegeben, sondern zuhanden der Mäuse in der Scheune als Wochenbett und zur Schärfung der Beißerchen des Mäuse-Jungvolks weiter liegengelassen wurde (wovon sollen die Antiquariatskatzen sonst leben, bitte) - der Sachverhalt ist richtig benannt und er hat, wir sind ja beide der alemannischen Tradition verbunden, natürlich auch eine Hebelsche Nutzanwendung. Klassische Frage:

Was lehrt uns das?

Sehen wir mal näher hin.

Das (bio-)bibliographische Wissen unserer Kunden ist, von den Fachleuten abgesehen, auch in ausgesprochenen Interessensgebieten sehr gering. Wir Antiquare neigen zu einer notorischen Überschätzung des Horizonts unserer Leser in Sachen retrospektiver Bibliographie.

Das fängt schon bei den formalen Zugangstechniken an. Mit Mühe tastet man sich als Kunde über ZVAB oder Abebooks an das Sachgebiet heran, ganz Kühne (meist Institutssekretärinnen) nutzen auch Eurobuch oder - nicht einmal die dümmste Idee - sie ziehen Google(allgemein) als Suchmaschine für den Kauf alter Bücher heran. Aber so gut wie keiner beherrscht die an sich doch einfachen Zugangstechniken des KVK (Karlsruher virtueller Katalog) und Google Books und Worldcat haben es, jede auf ihre Weise, fertiggebracht, den eiligen Durchschnittsnutzer erst einmal zu vergraulen.

Schwerwiegender noch ist die dramatisch abnehmende Kenntnis über historische Zusammenhänge. Unsere Familie weist einige Lehrer auf, so weiß ich aus erster Hand, wie erbärmlich das historische Wissen, das retrospektive Bewußtsein der meisten Gymnasiasten ist. Was für die allgemeine Geschichte gilt, muß noch weit mehr für die historischen Dimensionen der Bibliographie gelten.

Wenn dem so ist - ich lade jeden Kollegen zu einem Kundentest ein - , dann

*setzen wir bei der herkömmlichen Methode viel zu sehr auf bibliographische Genauigkeit,

wir legen Maßstäbe an, die der Universitätsbibliothekar, der ausgefuchste bibliophile Sammler fordern mag - - die aber für den normalen Kunden weitestgehend überflüssig und belanglos sind und die wir Antiquare uns sparen könnten - und sollten.

Der Schwerpunkt unserer Tagesarbeit muß von der unsäglichen Titelaufnehmerei weg verlagert werden zu einer besseren Inhaltserschließung!

Ich sehe die Reform unserer Titelaufnahmen etwa so (um beim gestrigen Beispiel zu bleiben): Z u e r s t kommt immer die Inhaltserschließung. Die muß aber, um Bündnisse und Standards zu ermöglichen, nach einem allgemein anerkannten, verabschiedeten und angewandten Schema erfolgen. M u ß.

Gesangbuch, protestantisch
Noten > Notendruck in Büchern vor 1900
Lied, Untergruppe Kirchenlied
Pfalz (Landeskunde), Untergruppe Kirche
Schöne Einbände des Biedermeier
Vorsatzpapiere, Untergruppe Phantasiepapiere vor 1850
1840 (als Eintrag in eine allgemeinen Zeitschiene, in 10-Jahres-Abschnitten zu indizieren)
Volksfrömmigkeit (als Untergruppe sowohl von Religion wie von Volkskunde)

Dann erst sehe ich, sozusagen im Anhang, die übliche blöde Titelaufnahme.

Meine These ist: Der Kunde erwirbt den Titel dann fast immer aufgrund einer der thematischen Indizierungen. Auf den rara avis, der den Titel dann noch über die klassische Titelaufnahme sucht, können wir lang warten.

Nun noch was anderes. Es hat wenig Sinn, etwa das ZVAB oder unsere anderen Bücherdatenbanken mit unseren verbesserten und standardisierten Sachgebietsindizierungen zu bestücken. Natürlich ginge das - - aber der Kunde findet diese neue, verbesserte Möglichkeit gar nicht und/oder kann, wenn gefunden, nicht mit ihr umgehen. Auch ist die verbesserte Indizierung dann eines jener Alleinstellungsmerkmale, von denen wir immer singen und sagen (und träumen). Die verschenkt man nicht an Melk- und Ausnutzungsdatenbanken.

Ich war gestern abend nicht besoffen, als ich Björn Biester, falls er auf Arbeitssuche sein sollte, die Verwaltung eines solchen vernetzten Datensystems vorgeschlagen hatte - denn

*interessant und vielfältig sachindizierte Datenbanken müssen b e t r e u t werden.

Man muß die Ergebnisse gefällig, übersichtlich, nutzbar machen.

Noch mehr: Die teilnehmenden Antiquare müssen jeden Tag dahin geprügelt werden, ihre Sachgebietsindizierungen sorgfältig zu erledigen - und die Kunden wollen geprügelt sein, um die Sachgebietskataloge anzunehmen und zu nutzen.

Das könnte man nun auch edler sagen, ich möchte erst gar nicht wissen, welches terminologische Geschwurbel unserem neuer Freund Leander Wattig dazu einfallen würde. Aber es geht hier nur darum, zu erkennen, warum und wie wir die Bücher zu unseren Kunden

*hintragen müssen. U n a u f g e f o r d e r t. Mit der Tür ins Haus fallend.

Wir sollten unsere Kunden verführen, belehren, ihnen Nachhilfekurse geben, unsere Titel ihnen, ohne daß sie vorher ihr Glück erahnen, zwangsweise an den Kopf knallen, bei Nacht und Nebel.

Dies alles leistet die Sachindizierung unserer älteren Bücher.

Eingebunden als Eigentum in ein erweitertes Webseitenbündnis (das so kindlich dann aber nicht mehr benamst werden sollte).

Ans Werk!


Das Bild gehört der Lesegesellschaft Stäfa/ Schweiz (oder dem Verleger, von dem sie es entliehen haben). Jedenfalls danke ich für die Illustrationsmöglichkeit.